Das Rauhe Haus

Die Geschichte des Rauhen Hauses  Anfang des 19. Jahrhunderts leben im Stadtstaat Hamburg (der heutigen Innenstadt) 100.000 Menschen, 60 Prozent davon in Armut. In den Elendsstadtteilen sind soziale und hygienische Verhältnisse katastrophal. Besonders betroffen sind die Kinder: Verwahrlosung, Kriminalität und Prostitution sind für sie alltäglich. Nur die wenigsten haben das Nötige zum Leben. Viele sind körperlich unterentwickelt und krank.Das erlebt auch der junge Theologe Johann Hinrich Wichern, als er 1832 vom Studium in Göttingen und Berlin nach Hamburg zurückkehrt. Der religiöse Verfall in der Unterschicht schockiert ihn besonders. Vom Leid der Kinder bewegte Hamburger besuchen die Elendsquartiere und versuchen, der größten Not abzuhelfen. Als Lehrer in der Sonntagsschule des bekannten Pastors Rautenberg in der Vorstadt St. Georg gehört Wichern dazu. Er findet seine Aufgabe: die Erziehung und christliche Unterweisung verwaister und verwahrloster Kinder und Jugendlicher. 1808 in Hamburg geboren, wird Wichern schon früh Halbwaise. Er verlässt die Schule, um die achtköpfige Familie mit zu ernähren und verdient den Lebensunterhalt durch Nachilfestunden und als Erzieher. Das Studium ermöglichen ihm reiche Hamburger. In St. Georg erkennt er, dass vereinzelte Unterstützung das Elend der Kinder nicht beheben kann. Die Idee eines „Rettungsdorfs“ draußen vor der Stadt wird geboren. Sie findet breite Zustimmung und unerwartet viel Unterstützung. Geldspenden sichern die Finanzierung. Senatssyndikus Karl Sieveking stellt ein Areal im Dorf Horn zur Verfügung, auf dem eine Bauernkate steht, seit jeher „Rauhes Haus“ genannt.

Johann Hinrich Wichern  wird am 21. April 1808 als ältestes von sieben Geschwistern in Hamburg geboren. Er arbeitet als Erziehungsgehilfe in einer privaten Hamburger Internatsschule. Hinrich Wichern
1828 - 1832: Theologiestudium in Göttingen und Berlin.
1832: Wichern beginnt als Lehrer an der Sonntagsschule in Hamburg-St.-Georg zu arbeiten, der auch ein Besuchsverein angeschlossen ist.
12. September 1833: Aufruf bei einer Bürgerversammlung zur Gründung der Rettungsanstalt Rauhes Haus.
1835: Heirat mit Amanda Böhme. Beide kennen sich aus der Sonntagsschule.
1844: Gründung der „Agentur“, die die „Fliegenden Blätter“ herausgibt, das spätere Organ der Inneren Mission.
22. September 1848: Erster Kirchentag in der Schlosskirche zu Wittenberg. Wichern fordert die Kirche auf, sich zur Inneren Mission zu bekennen. Danach wird der
                                  „Centralausschuss für die Innere Mission“ gegründet, der Vorläufer der heutigen Diakonie.
1857: Wichern wird preußischer Beamter. In Berlin widmet er sich der Gefängnisreform.
25. April 1858: Gründung des Ev. Johannesstifts in Berlin,
1871: Wichern hält seinen letzten großen Vortrag über „Die Mitarbeit der evangelischen Kirche an den sozialen Fragen der Gegenwart“.
1872: Nach mehreren Schlaganfällen kehrt Wichern ganz ins Rauhe Haus zurück.
7. April 1881: Wichern stirbt nach langem Leiden und wird auf dem historischen Friedhof der Hammer Dreifaltigkeitskirche neben seiner Mutter begraben

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Kunde Masurens - Teil 1

Zur Kunde Masurens - Teil 1 **** von Friedrich Salomo Oldenberg (1820-1894)

Anmerkung der Redaktion:
   Der Prediger Friedrich Salomo Oldenberg unternahm im Jahre 1864 im Auftrag der Inneren Misssion der evangelischen Kirche eine Reise nach Masuren. Sein umfangreicher Reisebericht vermittelt interessante Einblicke in die Lebensumstände der Bewohner Masurens. Sein Bericht wurde in "Fliegende Blätter", der Publikation der Inneren Mission, gedruckt und erschien im Jahre 1866 in den Ausgaben 10 und 11 (Oktober, November). Wir veröffentlichen im Folgenden das erste Kapitel "Land und Leute" in der damals üblichen Schreibweise.
   
   

Teil 1 - Land und Leute

   Masuren umfaßt die südöstlichen, das russische Polen berührenden Grenzbezirke Ostpreußens. Der östliche Theil derselben schließt die Kreise Goldapp, Oletzko, Lyk, Johannisburg, Sensburg, Lötzen, Angerburg in sich, welche dem Regierungsbezirk Gumbinnen - der südliche Theil die Kreise Ortelsburg, Neidenburg und Osterode, welche dem Regierungsbezirk Königsberg zugehören. Von den litthauischen Kreisen Ostpreußens aus erstreckt sich jener ausgedehnte Landstrich von Nordost nach Südwest in Form eines Halbbogens, in dessen Innenseite sich das streng katholische und durch geschichtliche Traditionen in sich geschlossene Ermland hineinlagert, während die ganze Außenseite von dem gleichfalls katholischen Polen umspannt und wie mit einem eisernen Ringe umschlossen ist. Schon durch solche Umgrenzung und theilweise Absperrung erscheint Masuren zu einer mehr in sich abgeschlossenen Entwicklung disponiert. Wird dazu noch der Einfluß in die Wagschale gelegt, den seine Lage am äußersten Ostrande der Monarchie ausüben muß, und der durch den Mangel an Wassergrenzen und größeren Wasserstraßen verstärkt wird - rechnet man hinzu, daß erst seit einer kurzen Reihe von Jahren Chausseebauten, und zwar nur sehr theilweise, einen größeren Verkehr möglich zu machen angefangen, während bedeutende Gebiete des Landes durch Weg- und Steglosigkeit noch bis heute vereinsamt liegen - und kommt zu dem Allen der durchschlagende Einfluß, welchen polnische Nationalität und Sprache, die von der deutschen noch lange nicht überwunden ist, dort ausübt, so wird die Berechtigung, jenen Landestheil als ein individuell geartetes Gebiet zu betrachten, sich von selbst daraus ergeben.

   Auch die natürliche Beschaffenheit des Landes trägt dazu bei, diese Eigenartigkeit noch mehr auszuprägen. Der zu erheblichem Theil sandige und steinige Boden, die Höhe desselben und die dadurch bedingte Rauheit des Klimas, die Wälder, die in manchen Gegenden noch weithin das Land bedecken, die vielen und großen Seen, von deren langem Zuge Felder, Wälder und Einöden unterbrochen werden, das Alles bildet ein Ineinander von Eintönigkeit und Romantik, wie es in dieser Mischung kaum anderwärts im preußischen Staate gefunden werden möchte.

   Der Name Masuren ist aus "Masovien" entstanden. "Masovien" aber bezeichnet einen durchaus anderen Land der tausend Seen Landstrich, als das preußische Masuren, nämlich den russisch-polnischen, der den Neidenburger und Osteroder Kreis südlich begrenzt, und dessen Mittelpunkt Plock ist. Wie jener Name aber auf den südostlichen Theil Ostpreußens übertragen ist, lässt sich mehr vermuthen, als mit Sicherheit feststellen. Wahrscheinlich ist, daß die Erinnerung an den Ursprung der polnischen Einwanderung, die zum Theil aus Masovien gekommen ist, hierauf von Einfluß gewesen. In einer preußischen Verordnung aus der Mitte des 17. Jahrhunderts werden die Bewohner jenes polnischen Masovien "Masuren" genannt. Gewiß aber ist, daß der Name Masuren als Bezeichnung jenes preußischen Gebietes bis zum Anfang dieses Jahrhunderts völlig ungebräuchlich war. Von da ab scheint er allmählich gebräuchhlich geworden sein. Populär aber wurde er erst ab den 1820er Jahren. Damals bildete sich auf der Königsberger Universität eine studentische Landsmannschaft, welche die Tendenz hatte, diejenigen corpsartig zu sammeln, deren Heimath jene Gegenden waren, und die meistens von den Gymnasien Lyck und Rastenburg die Universität bezogen. Diese Landsmannschaft nannte sich" Masovia ", und ihre Genossen, an den blaurothweißen Mützen und Bändern erkennbar, wurden bald auf der Universität, wie in der Provinz" Masuren" genannt. Die locale Bedeutung dieses Namens schärfte sich noch, als wenige Jahre später aus denjenigen Studenten, die von den litthauischen Gymnasien Tilsit und Gumbinnen kamen, die Landsmannnschaft "Lithuania" sich bildete, deren Name an eine seit Jahrhunderten gebräuchliche Bezeichnung sich anschloß. Das Neben- und Widereinander von" Litthauern " und" Masuren" ging von dem schattigen Lindenhofe der Alma Albertina und ihren Fechtböden in das Bewußtsein der Provinz über, und bald war es selbstverständlich, daß die Gegend von Oletzko, Lyck, Ortelsburg u.s. w. "Masuren" ist. Die Farben jener Landsmannschaft schmücken dort seitdem Fahnen und Wimpel bei festlichen Gelegenheiten, und so ist es bis heute geblieben.

Die Gegenwart

   Die polnisch redende Bevölkerung Masurens ist vorzugsweise eine ländliche. In den kleinen Städten des östlichen Masuren gehört ihr meist nur die dienende Klasse an, und auch diese ist zum Theil schon deutsch oder verdeutscht; so in Goldapp, Lyck, Oletzko. Dagegen ist das Polnische in den an der Südgrenze gelegenen Städten, wie Neidenburg, Willenberg usw. noch überwiegend und überall gehörte Verkehrssprache.

Die Sprache

   Sichtlich wird das Polnische immer mehr nach der Grenze gedrängt. Aber wenn es auch keinem Zweifel unterliegt, = daß die masurische Sprache aussterben wird, so ist es doch ebenso wenig Zweifelhaft, daß sie in der Bevölkerung noch sehr fest sitzt und wider den ihr drohenden Tod noch lange Widerstand leisten wird.

   Der Masur spricht die Vocale weniger voll und offen aus, als der Pole, und die Consonanten dünner, als jener; sz spricht er z.B. wie ein einfaches s, cz wie ein einfaches c usw. Doch ist die Eigenthümlichkeit des masurischen Dialektes, wiewohl überall vom Hochpolnischen abweichend, doch in den verschiedenen Gegenden Masurens eine verschiedene. Selbst die Bedeutung vieler Worte hat, verglichen mit dem Hochpolnischen, einen Nebensinn erhalten. In der Umgangssprache des Masuren kommen reichliche Germanismen vor, ja sogar viele deutsche Worte haben Auffnahme gefunden, zumal auf dem Gebiete der Gewerbe, wie auch die Druckschrift mit deutschen Lettern, nicht, wie das Hochpolnische (im eigentlichen Polen, wie in den polnischen Bezirken Westpreußens, Posens und Schlesiens) mit lateinischen Lettern die Gebräuchliche ist. Im Allgemeinen ist die masurische Sprache sehr arm. Sie hat keine Literatur, und ihr Sprachschatz wird ihr, soweit er sich nicht auf die Verhälttnisse der Alltäglichkeit beschränkt, nur von Bibel, Gesangbuch und Postillen gegeben. Abstrakta sind dem Masuren fremd, er spricht konkret und liebt den beschreibenden, malenden Ausdruck. Die hochpolnische Aussprache mag er nicht, am wenigsten im Munde des Geistlichen; er hält sie für katholisch. Die ihm eigenthümliche naturalistische Einfachheit im Ausdruck macht sich nur selten und sehr schwer zu eigen, wer nicht dort aufgewachsen ist und mit dem Volke gelebt hat. Selbst viele Geistliche, Lehrer und Beamte, die übrigens ganz geläufig polnisch sprechen, sollen doch nicht so sprechen, daß der Masur sie begreift, und in ihrer Sprache sich selbst wiederfindet. Politische Dinge ihm begreiflich zu machen, ist so gut wie unmöglich, weil die rechten Worte dazu absolut fehlen.

   Bei Gelegenheit von Wahlen wurden hier und dort demokratische Flugblätter in masurischer Sprache unter das Volk gestreut; sie blieben aber völlig wirkungslos, weil sie unverständlich waren. Der Masur will von nichts wissen, als von seinem König, schon deshalb, weil er nur für ihn ein Wort hat. Für Kammer, Volksvertretung, Verfassung usw. hat er keines. Seine Sprache macht ihn zum Absolutisten.

Die Volksart

   Der Masur verleugnet durch sein Naturell nicht, daß polnisches Blut in seinen Adern fließt. Er ist gutmüthig und leicht beweglich, unordentlich und unstät, vergnügt und träge, gemüthlich und gastfrei, gescheut, ja verschmitzt und anstellig, so lange er sich nicht den Verstand vertrunken hat. An schneller Fassungsgabe und äußerem Geschick übertrifft er den Deutschen nicht selten, aber bleibt hinter ihm zurück an Ausdauer und tiefer eingehendem Verständniß. Ein Zug simpler Genügsamkeit macht ihn achtungswerth, hemmt aber zugleich rüstiges Vorwärtsstreben und gewöhnt ihn selbst an die kümmerlichste Dürftigkeit einer kaum noch menschlichen Lebensweise. Alles kann er entbehren, wenn er nur seinen Branntwein hat. (Seine Natur ist darauf angelegt, Pietät zu üben, wenn dieselbe auch in den uns widerwärtigen Formen slavischer Unterwürfigkeit zur Erscheinung kommt. Dem Vorgesetzten und Höherstehenden küßt er die Hand, oder gar den Rockzipfel, und selbst dann oft, wenn es in seinem Herzen ganz anders aussieht. Wer diese Zeichen der Devotion ablehnen wollte, der würde ihn nicht ehren, sondern verletzen.

   Daß dem Geistlichen vom Masuren die Hand geküßt wird, ist das überall Gewöhnliche. Er ist ihm der Vertreter seiner Religion, und seiner Religion und Allem, was mit ihr zusammenhängt, wird er mindestens den äußeren Respekt nicht versaagen, selbst wenn er nichts als ein gottloser Gesell wäre.

   Recht in seinem Fahrwasser ist der Masur nicht unter Deutschen, sondern nur unter Seinesgleichen, dann ist Niemand redseliger, lustiger und jovialer als er. Er erzählt für sein Leben gern, und hört gern erzählen.

   Auch liebt er es, seine Späße zu machen, und ein Witz ist ihm viel werth. Wer gute Geschichten zu erzählen und mit Humor zu würzen versteht, der ist sein Mann, und so arm die Sprache ist, weiß er sie doch für den Scherz mit Feinheit zu handhaben. Von seinem neuen Pfarrer, der ein leises Organ hatte, sagte gelegentlich ein masurischer Bauer: " Wir haben uns ein Vögelchen gekauft, aber das Vögelchen kann nicht singen ". Das würde schwerlich ein deutscher Bauer sagen. Wenn aber der Branntwein ihm in den Kopf gestiegen ist, dann ist Niemand wüster, roher und lärmender als der Masur. Und der Branntwein steigt leider oft in die masurischen Köpfe.

   Ein durchgehender Charakterzug bei dem preußischen Masuren ist das Mißtrauen. Er ist es sich dem deutschen = Elemente gegenüber bewußt, der schwächere zu sein, und viel genug ist er auch der Unterdrückte gewesen. Es ist gar nicht lange her, daß die masurischen Knechte von den deutschen Gutsherren und Inspektoren mit tüchtiigen Schlägen traktirt wurden, und ob dergleichen nicht auch jetzt noch passirt, weiß ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen.

   Alles, wovon der Masur sich abhängig wußte, ist seit Jahrhunderten deutsch gewesen, und weil er sich dem Überlegenen nicht gewachsen sieht, sich oft genug mit ihm nicht einmal zu verständigen weiß, so wehrt er sich mit List und mit Mißtrauen. Ohne die deutsche Sprache ist er dem Deutschen gegenüber in der That auch nur zu oft wehrlos.

   Auf dem Markt, im Kaufladen, vor Gericht, überall glaubt er sich übervortheilt und oft wird er es auch. Vor Gericht ist er ganz dem Dolmetscher überantwortet und leider wird über die Unzuverlässigkeit der Dolmetscher und über ihre mangelnde Sprachkenntniß sehr bitter geklagt.

   Der Masur hat kein Vertrauen dazu, daß ihm Recht wird. Die Kanzleisprache der gerichtlichen Erkenntnisse versteht er ohne dies nicht, selbst wenn sie ihm wortgetreu übersetzt wird. Zum Schluß sperrt er den Mund auf und weiß nicht, ob der Prozeß eigentlich gewonnen oder verloren ist. Sehr bedenklich ist dieser Mißstand, wo es sich um Eidesleistungen handelt, mit denen ohne dies in unserem Prozeßverfahren so arger Mißbrauch getrieben wird. Die Dürftigkeit der Sprache und das Ungeschick der Dolmetscher bringen es oft zu Wege, daß der Masur; wenn er schwören soll, gar nicht verstanden hat, was er beschwören soll, und ehe er es sich versieht, eines Meineides bezichtigt wird. - In Wirthshäusern und im Handelsverkehr wird ihm auch häufig vom Deutschen übel mitgespielt. Wie oft ist es mir aufgefallen, daß Deuttsche mit einer Geringschätzung und Verachtung auf ihn herabsehen, die denselben wenig Ehre macht und zu der jedenfalls weniger Grund vorhanden wäre, wenn der Deutsche seine überlegene Bildung zum Besten des Masuren gewissenhafter verwerthete.

   Gleichwohl ist es eher ein Bewußtsein des Standesunterschiedes, das die Stellung des Deutschen zum Masuren charakterisirt, als das eines nationalen. Im Gegentheil hat er sich trotz Allem diesseits der polnischen Grenze durchaus acc1imatisirt und mit seiner Überlieferung und Sympathien so entschieden von Polen sich losgelöst, daß er dem National-Polen, seinem Blutsverwandten, weit femder ist als dem Deutschen. Er legt sogar ein großes Gewicht darauf, Preuße zu sein. Sicherlich hat er es einst auf polnischem Boden sehr viel schlechter gehabt, als er es jetzt in Preußen hat, und neben dem Protestantismus, so unklar derselbe auch in ihm lebt, bindet ihn der Patriotismus mit festen Banden an sein neues Vaterland. Schwerlich giebt es in irgend einer Provinz unseres Vaterlandes treuere UnteEine wunderschöne Aussichtrthanen, als in jenen entlegenen Grenzgegenden. Daher hat auch keine polnische Erhebung, deren Funken so leicht hatten nach Masuren hinüberfliegen können, dort irgendwie Feuer gefaßt.

   Anders steht es in diesem Stück bei der polnisch-katholischen Diaspora in Masuren, von der weiter unten die Rede sein wird, bei den polnischen Katholiken im Ermlande - dessen Geschichte ja so eng mit Polen verbunden ist, und bei den Polen in Westpreußen. Dort ist katholisch und polnisch, evangelisch und preußisch so gut wie gleichbedeutend.

   "Ich spreche nicht katholisch!" sagt ein westpreußischer Postillon zu einem Passsagier; dem er bemerklich machen wollte, daß er nur deutsch spreche. Der Panslavissmus freilich giebt sich neuerer Zeit viel Mühe zu beweisen, daß Masuren ein slavisches Land sei; aber den Masuren wird er das nie beweisen.

   Unter diesen Umständen ist es begreiflich, daß die Masuren der Regel nach einen hohen Werth darauf legen, deutsch sprechen zu lernen. Die Alten sehen es gerne, wenn ihre Kinder dazu gelangen; der Vortheil, den sie unter allen Lebensverhältnisssen davon haben, ist auch handgreiflich. Sie leisten daher der Schule, durch welche die Kunde des Deutschen ihnen vermittelt wird, nach dieser Seite hin gewöhnlich keinen Wiederstand. Selbst der Eitelkeit des Masuren schmeichelt es, wenn er deutsch spricht. Er giebt den Sohn, die Tochter gern in einen städtischen Dienst, einzig aus diesem Grunde. Und wenn der masurische Bauernbursche unters Militär tritt, wohl gar in Berlin oder Potsdam bei der Garde gestanden, den König mit eigenen Augen gesehen hat und mit der Soldatemnütze schließlich die deutsche Sprache zurückbringt, dann ist er im ganzen Dorfe und in jeder Schänke ein großer hoch angesehener Mann, während Vater und Mutter ihn schief ansehen, wenn er zum Deutschlernen zu dumm war. - Gleichwohl giebt es auch Bauernkreise - und sie sind wahrlich nicht die schlechtesten - die an der Sprache der Väter mit zäher Anhänglichkeit festhalten; die mit Kummer sehen, wieviel Schlimmes auch durch die Deutschen unter das masurische Volk gebracht wird und im Stillen klagen, daß ihre Muttersprache sterben wird. Namentlich ist das in den Gegenden der Fall, in denen das deutsche Element durch Schule, Einwanderung und Vordringen der gesammten Cultur noch nicht siegreich geworden. Aber gerade da, wo letzteres der Fall ist und der Masur im eigenen Interesse der deutschen Sprache am meisten sich zuneigt, ist er auch am meisten disponirt, von seiner nationalen Art und von angeerbter Frömmigkeit zu lassen.

Die Lebensart

   Der masurische Bauer wohnt der Regel nach in einer aus Lehm oder Holz gebauten Hütte. Nicht selten steht = dieselbe so schief als wüßte sie nicht, ob sie nach rechts oder links fallen soll. Das Dach ist mit Stroh gedeckt; Dachsteine sind eine Seltenheit. Nur in den wohlhabenderen Gegenden, wie im Kreise Oletzko, Lyck, Sensburg sieht man zuweilen im Äußeren der Wohnungen eine Art von Sauberkeit und Nettigkeit. In den ärmeren Gegenden ist Alles sehr kümmerlich und schmutzig. In einer niedrigen Stube, in der durch einen großen Ofen ein kleiner Raum abgetrennt ist, wohnt die ganze Familie, meist auch Knecht oder Magd; letztere hinter dem Ofen. Bei den Losleuten wohnen oft drei, ja vier Familien in einer Stube zusammen. In den meisten Fällen ist für die ganze Familie ein Lager. Ein paar Schemel, eine Kiste, ein Tisch und nicht selten ist die Kiste der Tisch - etliche Schüsseln und Töpfe bilden den Hausrath. An der Wand sieht man oft neben dem Bilde des Königs oder des Kronprinzen ein Heiligenbild - schlechte Bilder; welche die Firma von Neuruppin tragen. Ein Faß mit Sauerkohl, der in der Ecke hinter der Bettstelle gährt- er ist der kostbarste Wintervorrath - thut treulich das Seine, die dicke Luft noch mehr zu verdicken. Am Fenster oder auf einem Brettchen sieht man Bibel, Gesangbuch und polnische Postille in friedlicher Nachbarschaft mit der Branntweinflasche.

   Der Lehmboden, der jede Erinnerung daran, daß er einst eben gewesen ist, völlig verloren hat, wird nur an Sonntagen und hohen Feiertagen gekehrt. Das Öffnen des kleinen Fensters liegt nicht in der Volkssitte. Ein Glück ist es, daß zerbrochene Fensterscheiben nicht so leicht wieder hergestellt werden, oder nur dürftig mit einem Papierlappen, oder einer in die Lücke gestopften Schürze. Bis vor 25 Jahren hatten die Bauernhäuser noch vielfach keine Schornsteine; jetzt dürfen dieselben auf obrigkeitlichem Befehl nirgends fehlen.

   Das Vieh ist selbstverständlich der nächste Hausgenosse des masurischen Bauers. Das Hausrecht des Schweines in der" Chaluppe" wird oft höher geachtet, als das des Kindes. Vor den Häusern, unmittelbar an der Thüre, habe ich häufig die Dunggruben gesehen. Etliche Steine werden hineingeworfen, um den Weg zur Hausthüre zu bilden, wenn die Grube sich allzuweit ausgedehnt hat.

   Wie es bei dem Allen mit der Sauberkeit steht, braucht nicht erst gesagt zu werden. Die Kinder laufen höchst schmutzig umher, als gäbe es auf der ganzen Welt weder Kamm noch Seife. Daß die Nadel in Masuren nicht viel gilt, erkennt man allzuoft an ihren in Fetzen hängenden Kleidern. Oft sieht man sie auch auf der Dorfstraße im schmutzigen Hemde und immer baarfuß, auch wenn draußen der hohe Schnee liegt. Wo größerer Wohlstand eingekehrt, steht es freilich besser damit.

   Im Sommer geht der masurische Bauer um 5 Uhr, oder früher noch, an seine Arbeit und zwar nüchtern. Um 7 Uhr hält er, ich will die Lebensart eines nicht armen schildern - die erste Mahlzeit. Sie besteht aus Sauerkohl (Schnittka), der auch für den Winter schon in einer Tonne hinter der Bettstelle präparirt wird, oder aus eingesäuuerten rothen Rüben. Ein masurischer Magen liebt das Saure. Dazu Kartoffeln mit Schalen und Branntwein.

   Um 10 Uhr ein Schnaps, in der Erntezeit, wenn er's hat, ein Stück Brod dazu. Um 12 Uhr Mittag: Kohl oder Wrucken, oder saure Mehlsuppe mit Kartoffeln. Mann, Weib und Kinder, dazu Knecht oder Magd, essen aus einer Schaale, mit hölzernen Löffeln, die sie gewöhnlich selber geschnitzt haben. Man ißt sehr viel, wenn man's hat. Zum Abendbrod, gegen 9 Uhr, Kartoffeln oder eine Mehlsuppe.

   Für Feiertage werden nicht selten Fladen gebacken, ein eigenes Hausbier mit höchst einfachen Mitteln gebraut, und im Branntwein ein Uebriges gethan. Dann bekommen auch die Kinder ihren Schnaps, selbst zwei- und dreijährige und wenn sie ihn nicht wollen, dann müssen sie. Fleisch essen nur die Wohlhabenden, und auch diese nur am Sonntag. Der Aermere sieht das ganze Jahr hindurch keins. In vielen Gegenden ist die Armuth so groß, daß der Bauer auch niemals Brod ißt. Die Bitte: unser täglich Brod gieb uns heute - hat in Masuren den nächsten Wortsinn für viele verloren.

   Ihr täglich Brod ist die Kartoffel und der Branntwein. Wo die rechte Armuth zu Hause ist, hat der Bauer nur eine Mahlzeit, um 10 Uhr vormittags. Natürlich muß das Fehlende der Branntwein ersetzen. Abends brennt in der Stube eine kleine blecherne Oellampe, die von der Decke herabhängt, oder ein Kienspan. Dann drehen die Männer, falls sie nicht im Kruge sind, Stricke, machen Peitschen oder schneiden hölzerne Löffel, wobei die Pfeife dampfen muß. Die Frauen spinnen. In manchen Häusern giebt es auch einen Webstuhl, der in der kleinen Stube, trotz aller Bedrängniß, Raum findet. Manche Frauen verstehen sich auf das Weben sehr gut. Sie bringen ihre Leinwand nach der nächsten Stadt zum Markte, oder verkaufen sie an umherziehende jüdische Händler.

   An Winterabenden spinnen oft die Mädchen in Gemeinschaft. Sie kommen mit ihren Wocken dahin, wo die größte Stube ist, ihrer wohl sechs bis zehn; oder es geht auch reihum.

   Männer kommen dazu nicht. Sie spinnen, schwatzen und singen ihre Volkslieder, meist gute und züchtige, in ihren zum Theil schwermüthigen Melodien. Hat man keine Lampe, so genügt ein langer Span Kienholz, oder das Feuer im Ofen. Da essen sie auch ihr kümmerliches Abendbrod und gehen rechtzeitig nach Hause.

   Morgens und Abends hält der "Hauswirth ", wenn er noch einer vom alten guten Schlage ist, eine Hausandacht. = Er spricht ein kurzes Gebet oder ein Vaterunser. Sonntags singt die Familie, ehe es zur Kirche geht, einige Morgenlieder: "O Gott nun ist es wieder Morgen" - oder "O Jesu, süßes Licht". Alle diese ursprünglich deutschen Gesänge enthält das sehr reiche masurische Gesangbuch. Alt und Jung wissen diese Lieder auswendig. Dann ließt der Hauswirth aus der Bibel vor. Nach dem Mittagessen werden mehrere Tischlieder gesungen. Selbstverständlich ist die gute Sitte nicht mehr bei vielen Familien zufinden, und wo das Deutsche vordringt, kommt sie immer mehr in Abnahme.

   Die Frauen haben es hart in Masuren. Weder in der Brautzeit, noch in der Ehe selbst ist für zartere Töne Raum, die ja auch beim deutschen Bauer der Regel nach fehlen. Aber die Unkultur macht das Loos der masurischen Frauen doch trüber, als es anderwärts dem Weibe beschieden sein mag. Noch vor 20 Jahren konnte man im Ortelsburger Kreise, und gewiß nicht in ihm allein, den masurischen Bauer mit der Peitsche hinter dem Pflug hergehen sehn, vor den neben seinen einzigen Ochsen sein Weib gespannt war. Die masurische Frau muß von früh bis spät harte Arbeit thun. - Bis vor ihrer Niederkunft arbeitet sie auf dem Felde, und es soll nicht selten geschehen, daß sie dort ihre Kinder gebiert. Wenn das Kind zur Welt gebracht ist, dann ist das Erste, daß die Wocherin einen Trunk Branntwein bekommt.

   Am nächsten Sonntag muß das Kind sofort getauft werden, auch wenn es erst am Freitag oder Sonnabend geboren ist. Das ist unverbrüchliche Regel, und zwar in der Kirche muß es getauft werden, und die Mutter darf dabei nicht fehlen. Die Kirche ist aber eine, anderthalb oder gar zwei Meilen weit entfernt; der Weg ist schlecht, und es ist hoher Winter. Gleichwohl wird die Wöchnerin im offenen Wägelchen oder im Schlitten hingefahren; ihr Kind in Kissen verpackt, hat sie auf dem Schooße. Es ist vorgekommen, daß, wenn man endlich zur Kirche gekommen war und der Taufakt beginnnen sollte, der Täufling zur allgemeinen Verwunderung zwischen den Kissen vermißt wurde. Er war unterwegs aus denselben herausgeschlüpft und vom Schlitten verloren gegangen. Dann wird flugs umgekehrt und auf dem Schneewege nachgesucht, bis man ihn findet. - Lebt er noch, dann geht es eilig zur Kirche zurück, und die Taufe kann beginnen.

   Jede Mutter stillt ihr Kind, auch in der schwersten Arbeit. Wer krank wird, der muß zusehen, wie er wieder gesund wird. Den Arzt kennt der masurische Bauer nicht, auch für die Mutter seiner Kinder nicht. Stirbt sie, so stirbt sie. Viel eher wird zum Thierarzt geschickt, wenn der Ochs oder das Pferd krank ist. "Eine Frau" - sagte ein masurischer Bauer - "kann ich immer wieder haben, einen Ochsen nicht". Auch bei Kinderkrankheiten, die bei der Unsauberkeit und Mangel an Pflege in den Dörfern oft epidemisch und bösartig auftreten, sucht man keinen Arzt. Die Mittel, nach denen man greift, sind anderer Art, wovon in einem folgenden Abschnitte ausführlicher die Rede sein wird. Darum sterben auch die Kinder dort sehr zahlreich. Der masurische Bauer macht aber sehr wenig Aufhebens davon, wenn ihm sein Kind stirbt

Quelle: Ortelsburger Heimatbote 2012

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