Schrecksekunde in Ortelsburg
Journalisten, heimatverbliebene Ostpreußen, ein Rückkehrer und ein Nationalist -
Begegnungen auf einer Masurenreise
Wenn einer eine Reise tut, dann trifft er oft interessante Leute, mit
denen er sich auch jenseits der Grenzen des eigenen Staates in seiner Muttersprache unterhalten kann. Der
nachfolgende Bericht basiert auf Begegnungen bei einer Reise nach Masuren vom 27. September bis zum 3. Oktober.
In Allenstein bin ich mit Anna Przywozna verabredet, der Rekteurin der Allensteiner Welle, also
des über Radio Olsztyn gesendeten deutschsprachigen Radioprogramms. Es ist mein Anreisetag. Statt der veranschlagten zwölf
Stunden benötige ich 14. Als ich das Rundfunkgebäude endlich erreicht habe, war sie nach anderthalb Stunden Wartens
gegangen. Aber der Pförtner erreicht sie über das Mobiltelefon, und ein par Minuten später zeigt sie mir die Studios.
Danach unterhalten wir, uns über das Radioprogramm, seine Macher und Hörer, die deutsche Volksgruppe, die
deutsch-polnischen Beziehungen und die heutige Verbreitung der deutchen Sprache in ihrem Sendegebiet. Dabei stellt sich
heraus, dass die Redakteurin des Programms für die deutsche Volksgruppe selbst keine deutschen Vorfahren und erst als
Erwachsene Deutsch gelernt hat. Ihr Studium hat die Hauptberufliche Deutsch-Lehrerin am nicht mehr bestehenden
Lehrer-Seminar in Ortelsburg begonnen, Ihr Kollege Uwe Hahnkamp, den ich am nächsten Tag kennenlerne, stammt dagegen aus
Franken und ist ursprünglich vom in Stuttgart beheimateten Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) als Kulturmanager nach
Masuren geschickt worden. "Aber der Tontechniker, den Sie vorhin gesehen haben, ist ein Angehöriger der deutschen
Minderheit, allerdings nicht dort organisiert."
Während der folgenden drei Tage besuche ich in Kruttinnen, Kreis Sensburg, die Masurischen Gespräche.
Diese Kulturveranstaltungsreihe der Masurischen Geesellschaft findet seit 1990 unter der Leitung von Tadeusz Siegfried
Willan, der inzwischen selbst zu einer Institution in Masuren geeworden ist, jedes Jahr im Herbst statt. Das diesjährige
Seminar steht unter der Überschrift: "Schätze die wir nicht kennen Polnische Literatur in deutscher Sprache." Der Großteil
der Teilnehmer sind Angehörige der deutschen Volksgruppe, die meisten im Alter von Ende 70 bis Annfang 80. Viele von ihnen
sind nicht nur Mitglied der Masurischen Gesellschaft, sondern auch im jeweiligen deutschen Verein ihres Wohnortes
organisiert. Die Referenten sind meist deutlich jünger, teilweise könnten sie die Enkel ihrer Zuhörer sein. Seit das
ifa keine Reisekosten mehr übernimmt, haben Referate von Bundesdeutschen Seltenheitswert. Eine der Referentinnen, eine
junge Germanistin aus Angerburg, die in Warschau als Deutschlehrerin arbeitet, hält einen Vortrag zu dem Thema "Welche
polnische 'Frauenliteratur' erreicht den deutschen Leser?" Das wird derart lebendig und kompetent vermittelt, dass sogar
ich mir anschließend vorstellen kann, eines der vorgestellten Bücher zu lesen.
Am zweiten Tag des Seminars bin ich selbst mit meinem Referat "Die Kreisgemeinschaft Ortelsburg und
ihr Heimatbote" an der Reihe. Dabei berichte ich auch von der Bruderhilfe, die die Kreisgemeinschaft jährlich an bedürftige
Landsleute, die in der Heimat geblieben sind, auszahlt. Mir kommt dieser Auszahlungsbetrag eigentlich eher gering vor,
deshalb frage ich meine Zuhörer nach ihrer Meinung zu derartigen Aktionen. Nach anfänglichem Zögern kommen die Antworten:
"Bei uns wird viel weniger gezahlt.", "Wenn man, so wie wir, vom umgerechnet 132 Euro im Monat leben muss, ist jeder
zusätzliche Betrag willkommen." und "Wichtig ist nicht die Höhe des Betrags, sondern, dass man in Deutschland immer noch
an uns denkt."
Am Ende meines Beitrags packe ich etwa 20 Ortelsburger Heimatboten, die Jahrbücher der
Kreisgemeinschaft, auf den Tisch und fordere die Zuhörer auf, sich hieran bei Bedarf zu bedienen. Obwohl keiner aus dem
Kreis Ortelsburg kommt, sind die Hefte schnell vergriffen. Noch an Ort und Stelle fangen die Leute an, darin zu lesen.
Als zwei Referate in polnischer Sprache angekündigt werden, verlasse ich die Veranstaltung
vorübergehend, da ich kaum etwas, nur einzelne Wörter verstehen würde. Die Zeit nutze ich zu einer Stippvisite in
Farienen im Kreis Ortelsburg, dem Heimatort meines Vaters.
Hier suche ich den katholischen polnischen Pfarrer auf, der einer von zwei Leuten im Dorf ist, die
Deutsch sprechen. Während unserer Unterhaltung über gemeinsame Bekannte und die Geschichte des Dorfes fällt unweigerlich
wieder der Name "Johann Bially". Das war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein in Farienen lebender
Gromatki-Aktivist, der, obwohl er bei der Volksabstimmmung 1920 für Deutschland gestimmt haben muss (in Farienen betrug
das Abstimmungsergebnis 100 Prozent für Deutschland), von den Polen als Vorkämpfer für das Polentum in Masuren vereinnahmt
wird. "Für uns ist Bially ein großer Mann", sagt der Pfarrer. Als was er denn in der Bundesrepublik gesehen werde? Ich
antworte ihm, dass ihn in der Bundesrepublik kaum jemand kennt.
Zurück in Kruttinnen. Die abendlichen Gespräche mit den Teilnehmern sind das Salz in der Suppe des
Seminars. Dabei geht es um die Lebensverhältnisse der deutschen Volksgruppe im südlichen Ostpreußen vom Kriegsennde bis
heute. Eine ältere Frau errzählt, wie sie von den polnischen Behörden zum Bahnhof geschickt worden ist, um den nächsten
Zug in den westlich von Oder und Neiße gelegenen Teil Deutschhlands zu nehmen. Nach stundenlangem Warten vor dem Bahnhof
hieß es dann, der Zug sei voll, sie solle wieder gehen. Wieder in ihrer Wohnung angekommen, fand sie diese vollkommen
leergeräumt. Ob es besagten Zug überhaupt gegeben hat, weiß sie nicht. Andere erzählen von einer aufgebrochen
evangelischen Kirche, in denen von den Besetzern zu Beginn der Okkupation erst einmal die Schlösser ausgewechselt wurden,
damit die Deutschen nicht mehr hinein konnten. Oder von dem evangelischen Pfarrer, der auf Geheiß höherer Stellen
seinen Schäfchen das Singen auf Polnisch aufzwingen wollte. Nachdem diese die von ihm verteilten Liedtexte weggeworfen
hatten, klebte er in einem zweiten Anlauf die Liedtexte auf den Kirchenbänken fest. Dort blieben sie aber auch nicht
lange, weil die Gläubigen sie während der Gottesdienste abknibbelten. Selbst zu Kirchenaustritten soll es damals
gekommmen sein. Ein anderes Thema sind deutsch-polnische Mischehen. In der Altersklasse der meisten Teilnehmer überwiegt
der Frauenanteil schon aus biologischen Gründen. Aber auch unter den anwesenden Ehepaaren gibt es nur ein Paar, bei dem
beide Partner Deutsche sind. In den nachfolgenden Generationen werde dann meistens auch wieder ein polnischer Partner
geehelicht, was zu einem langsamen Aussterben des Deutschtums führe. Aber auch sonst sind die jüngere Vergangenheit
und die Gegenwart Gegenstand der abendlichen Unterhaltungen. Unverständnis über die Praxis des deutschen Konsulats,
die Staatsbürgerschaftsurkunden nur auf zehn Jahre befristet auszustellen, wird geäußert ("Bin ich denn nur Deutsche
auf Zeit?") und auch, dass sich etliche der alten Herrschaften schon gar nicht mehr die Mühe machen, nach zehn Jahren
eine neue Urkunde zu beantragen. Von der ,Wende" vor 20 Jahren ist die Rede und von Rivalitäten unter den verschiedenen
deutschen Verbänden und ihren Spitzenfunktionären, von vertanen Chancen und geplatzten Träumen. Zu letzteren gehört
der Ausbau des Ordensschlosses in Rhein zu einem deutschen Kulturzentrum mit Internatsschule, Altersheim und weiteren
Einrichtungen. Zu den vertanen Chancen gehört offenbar insbesondere die Gründung einer deutschen Schule, welche die
Basis für ein dauerhaftes Überleben der deutschen Volksgruppe gewesen wäre. Hier soll die von der ukrainischen Minderheit
in Masuren, die seit Jahrzehnten über eigene Schulen verfügt, angebotene massive Hilfe bei der Schulgründung von einem
damals maßgeblichen Vertreter der deutschen Volksgruppe abgelehnt worden sein, nach dem Motto: "Mit den Ukrainern
arbeiten wir nicht zusammen." Weiter ist von einigen geschäftstüchtigen Angehörigen der deutschen Volksgruppe die Rede,
die, seit sie über Fernsehsendungen und durch Erwähnung in Reiseführern in der Bundesrepublik einen gewissen,
den Geschäftsumsatz deutlich steigernden Bekanntheitsgrad erreicht haben, zu den kulturellen Veranstaltungen der
deutschen Vereine nicht mehr erscheinen.
Zu den wenigen nicht hier geborenen Teilnehmern gehört ein aus Bayern stammendes Ehepaar, das nach
einem Masurenurlaub vor einigen Jahren beschlossen hat, sich hier niederzulassen. Der Mann, Anfang 70, erzählt mir von
seinen Tierschutz-Aktivitäten, die vom Aufpäppeln eines nach einem Verkehrsunfall halb toten Hundes bis zur Pflege
flugunfähiger Störche reichen.
Mit Gerd Fensterseifer, dem Vizekonsul des deutschen Generalkonsulats in Danzig, erscheint abends
noch ein Gast, der besonders freudig begrüßt wird. Die Freude der Versammelten ist echt, nicht nur weil ein hochkarätiger
Angehöriger des Konsulats die Veranstaltung als offizieller Vertreter des deutschen Staates aufwertet, sondern weil sie
auch heute noch in schriftlichem Kontakt mit seinem Vorgänger stehen, dessen im fernen Los Angeles geschriebenes Grußwort
verlesen wird.
Fensterseifer, seit einem Jahr am Generalkonsulat in Danzig tätig, ist ein unkomplizierter,
volkstümlicher Mann. Er sitzt mal an diesem Tisch, mal an jenem, unterhält sich beim Bier mit allen, die das wollen, hört
sich an, was die Leute zu sagen haben, und erteilt bereitwillig Auskünfte, wobei sich wirklich kritische Fragen der
Teilnehmer jedoch in Grenzen halten. Den auf Tätigkeiten für die deutsche Volksgruppe entfallenden Arbeitsanteil der
gesamten Konsulatsaufgaben schätzt er auf fünf bis zehn Prozent. Auf meine Frage nach dem Grund für die zeitliche
Befristung der Staatsangehörigkeits-Urkunden erklärt er, dass theoretisch ja ein Wechsel der Staatsangehörigkeit
des Urkundeninhabers, beispielsweise durch eine Adoption, stattgefunnden haben könne. Bei dem hier anwesenden
Personenkreis sei das zwar eher unwahrscheinlich, aber so seien nun einmal die Vorschriften. Ich äußere ihm gegenüber,
die Gesamtunterstützung der deutschen Volksgruppe hier durch die Bundesrepublik sei doch lediglich eine
lebensverlängernde Maßnahhme und nicht dazu geeignet, das Überleben der Volksgruppe auf Dauer zu sichern. Meine
daran anschließende Frage, ob er die Unterstützung der
deutschen Volksgruppe im Einzugsbereich seines Generalkonsulats für angemessen und ausreichend halte, beantwortet
er mit der Gesetzeslage. Die Konsulate dürften nur eine projektbezogene und keine institutionelle Förderung betreiben.
Außerdem seien die dafür zur Verfügung stehenden Mittel begrenzt. Das führe dazu, dass die Konsulate manchmal
entscheiden müssten, welchen Anträgen auf Förderung sie denn nun stattgeben könnten. Und da sei eine Veranstaltung
wie die Masurischen Gespräche eher förderungswürdig als beispielsweise eine Weihnachtsfeier. Letztlich sei der
Haushaltsausschuss des Bundestages die Institution, die über die Höhe der verfügbaren Geldmittel entscheide.
Die nächsten Nächte verbringe ich bei einem Ehepaar ein Stück weiter im Osten. Der Mann ist ein
Angehöriger der deutschen Volksgruppe. Auch die Frau spricht ein recht ordentliches Deutsch. Der Großteil ihrer
Verwandten, einschließlich ihrer erwachsenen Kinder, lebt im westlichen Ausland. "Mein Bruder durfte fünf Jahre lang
nicht wieder einreisen", erzählt der Mann. Auf meine Frage, ob sein Bruder heimlich abgehauen sei, antwortet er:
"Nein, wer illegal verschwunden ist, durfte zehn Jahre lang nicht kommen. Es gab auch Fälle, da sind die Leute
regelrecht rausgeschmissen worden, nämlich dann, wenn man ihre Wohnnhäuser haben wollte." Auch zu der in der
Bundesrepublik relativ bekannten, zweisprachig deutsch-polnisch unterrichtenden Marion-Gräfin-Dönhoff-Schule
in Nikolaiken fällt ihm etwas ein: "Das ist eine Schule für reiche Polen. Unsere Tochter wäre da auch gerne
hingegangen. Aber wir hättten das Schulgeld nicht bezahlen können. Und für das tägliche Bringen zur Schule fehlte
mir nicht nur das Geld, sondern auch die Zeit. Ich musste schließlich arbeiten."
In Ortelsburg bin ich mit einem jungen Mann polnischer Nationalität verabredet, der nach einem
Studium an verschiedenen polnischen und deutschen Universitäten auf Grund seiner Studienleistungen und seiner
Deutschkenntnisse ein mehrmonatiges Praktikum beim Deutschen Bundestag absolvieren konnte. Während unseres Gesprächs über
die deutsch-polnischen Beziehungen und die Vergangenheit Masurens stellen wir übereinstimmend fest, die Kenntnis
der Vergangenheit sei wichtig, die Gegenwart und Zukunft aber noch wichtiger. Seine Ansicht, die Verhältnisse
zwischen Deutschen und Polen seien heute weitgehend entspannt, kann ich aus eigenem Erleben bestätigen. Die
einzige unangenehme Begegnung in Polen hatte ich vor ungefähr 15 Jahren in einem Dorf im Kreis Neidenburg.
So etwas könne heute, vor allem in der Stadt, nicht mehr passieren, ist sich mein Gesprächspartner sicher.
Ein paar Stunden später werde ich eines Besseren belehrt. In Ortelsburg (Szczytno) gibt es das
Haus mit der Adresse ul. Pasymska Nr. 5. Hier hat im Jahr 1806 die preußische Königin Luise auf der Flucht vor Napoleon
ein paar Tage gewohnt. Dieses "Luisenhaus" war bis zum Zweiten Weltkrieg mit einer entsprechenden Gedenktafel
und weiteren Verzierungen versehen, die zum Teil noch erhalten sind.
Im 200. Todesjahr der Königin will ich das Haus einmal aus verschiedenen Winkeln fotografieren. Während ich es
von öffentlichem Gelände aus ablichte, öffnet sich im ersten Stock ein Fenster, ein älterer Mann richtet eine
Pistole auf mich und bedeutet mir, zu verschwinden. Da ich auf die Entferrnung nicht sehen kann, ob die Waffe echt
ist, mache ich mich davon. Nach ein paar Schritten höre ich hinter mir einen Schuss knallen. Offenbar hat sich
die deutsch-polnische Aussöhnung doch noch nicht überall herumgesprochen.
Das "Luisenhaus" in Ortelsburg: Aus dem Fenster im oberen Stock
wurde auf den Verfasser dieses Beitrags eine Pistole gerichtet. Die
anderen Begegnungen in der Heimat verliefen friedlich und harmonisch.
Bild: Ollesch
Eine halbe Stunde später bin ich bei einer Bekannten in Ortelsburg zu Gast.
Ich überlege, ob ich den Mann bei der Polizei anzeigen soll, entscheide mich aber auf ihren Rat dagegen. Auch meine
Gastgeber raten mir abends von einer Anzeige ab. Auf meine Vermutung, hier an einen Deutschenhasser geraten zu sein,
meint der Herr des Hauses: "Naja, vor gar nicht so langer Zeit hat ein Pole im Zusammenhang mit Erika Steinbach zu mir
gesagt, dem nächsten Deutschen, den er treffe, wolle er in die Schnauze schlagen."
Am letzten Tag meiner Reise treffe ich in Ortelsburg zufällig einen Mann, dessen Auto ein deutsches
Kennzeichen trägt. Er stellt sich als ein in Westfalen lebender Pole vor, der in seinem Haus in Ortelsburg nach dem
Rechten sieht. "Nachdem ich vor 20 Jahren dieses Haus gebaut habe, bin ich zur Arbeit nach Deutschland gegangen. Wie
mein Vater schon sagte: Heimat ist dort, wo man Arbeit und Brot hat."
Wie zu Anfang schon gesagt: Wenn einer eine Reise tut, trifft er mitunter eine Menge interessannter Leute.
Detlef Ollesch
>> Quelle: Das Ostpreußenblatt vom 6. November 2010 <<