Von Ostpreußen nach Ostpreußen

Der Angerburger Stadtkassen-Angestellte Otto Broszio strandete in Damgarten - Russen zwangen Flüchtlinge zur Rückkehr

Angerburg
Flüchtlingselend

   Angerburg. Am 24. Januar 1945 um drei Uhr früh verließ ich mit dem Kassenboten, Herrn Kafka, mit dem letzten Zug die Stadt Angerburg. Als stellvertretender Leiter der Stadtkasse hatte ich den Auftrag die bei der Kasse vorhandenen Vermögenswerte im Wert von ungefähr einer Million Reichsmark zur Ausweichstelle nach Köslin/Pommern in Sicherheit zu bringen. Da die PoIizeibeamten auch schon fort waren, warteten nur noch Kafka und ich auf den Abmarschbefehl. Auf nochmalige Anfragen, wann auch wir endlich abreisen könnten, erschien am späten Nachmittag des 23. Januar der stellvertretende Bürgermeister Fritz Behrend und sagte, es führe noch ein Zug wir müssten uns aber beeilen. Wir setzten uns auf unsere Räder und fuhren zum Bahnhof. Als wir dort ankamen, war der Zug schon weg. Er war bereits abgefahren. Was nun?

   Als es dunkel wurde, sahen wir, dass noch einige Wagen zusammengeschoben wurden. Uns wurde gesagt, dass nur Eisenbahner und Soldaten mitfahren dürften. Wir sind dann doch unbemerkt eingestiegen und warteten auf die Abfahrt.

   Am 25. Januar kamen wir in Königsberg an, wohin der Zug umgeleitet worden war. Da die Stadt dauernd mit Bomben beworfen wurde, bestand keine Verbindung nach außen und wir beschlossen, per Fußmarsch weiterzukommen. Wir wollten über Pillau und die Frische Nehrung nach Danzig gelangen.

   Am 29. Januar begann unser Marsch. In Metgethen, das voll von Trecks war, wurden wir von Tieffiiegern angegriffen, konnten uns aber unter einen Treckwagen werfen. Am Morgen des 30. Januar sind wir im Schneesturm weitergegangen und erreichten Fischhausen. Wir fanden ein Haus, in dem ein Schornsteinfeger gewohnt hatte, und blieben zur Nacht. Hier konnten wir uns erst einmal ausruhen. Es waren noch einige Flüchtlinge da. Ein altes Ehepaar hatte Betten auf dem Boden ausgelegt, wo ich mich hinlegen durfte. Als die Frau merkte, dass ich mich nicht bedecken konnte, nahm sie meinen Arm und zog mich zu sich heran: ,,Nun wärmen Sie sich man gut auf und haben keine Angst, ich werde Ihnen nichts tun." Ich sagte darauf: ,,Ich habe keine Angst, und wenn Sie auch keine Angst haben, ist ja alles gut." Am nächsten Morgen haben wir darüber lachen müssen.

   Auf dem Weg nach Pillau Am 31. Januar zogen wir weiter in Richtung Pillau. Nachdem es hell geworden war, sind wir zur Fähre gegangen. Als wir ankamen, sahen wir, dass dort Lastwagen der Wehrmacht verladen wurden. Ich meldete mich bei dem Offizier, der die Aufsicht hatte, und sagte, dass ich einen Auftrag der Stadt Angerburg hätte. Der Offizier antwortete, dass es ihm leid täte, meine Bitte nicht erfüllen zu können, da er grundsätzlich Zivilpersonen nicht passieren lassen dürfe. Da kam mir ein Gedanke: Der Offizier stand auf der linken Seite der Fähre und wir auf der rechten. Wenn nun ein Laster auf die Fähre fuhr, konnte uns der Offizier nicht sehen. Wir mussten versuchen, mit dem Lkw mitzulaufen und uns auf der Fähre unter den Wagen zu werfen. Es war damit aber ein Risiko verbunden, denn falls der Fahrer zu weit nach rechts halten würde, hätte es passieren können, dass wir gegen die Wand gedrückt würden.

   Aber wie gesagt, so getan. Zuerst liefen Kafka und ich auf die Fähre und dann unsere weiteren Begleiter Auf der Flucht Skerra und Salz. Wir krochen unter die Lkw und warteten auf die Abfahrt. Es hatte geklappt. Kurz bevor wir Neutief erreicht hatten, krochen wir wieder vor und stellten uns neben den Wagen. Als sie anfuhren, sind wir wieder mitgelaufen und erreichten ungesehen die Frische Nehrung. Am 2. Februar sind wir weitermarschiert und waren mittags in Kahlberg, wo wir in der Schule Unterschlupf fanden. Der Weg dahin war sehr schwer, aber wir konnten schlafen und uns ausruhen. Es hieß aber weiterzuziehen, und so machten wir uns am 3. Februar auf den Weg nach Pasewalk. Wir mussten unterwegs mehrmals halten, um neue Kräfte zu sammeln. Wir kamen bei einem Bauern unter, dessen Frau uns in die Küche nahm, wo wir Strümpfe und Schuhe trocknen konnten. Auch warmen Kaffee und ein Stück Brot bot uns die Frau an, was wir dankbar annahmen.

   Am nächsten Morgen erreichten wir Mikelswalde, wo wir einen kleinen Frachtdampfer sahen. Als wir hörten, dass er nach Danzig fuhr, baten wir den Kapitän, uns mitzunehmen. Ich brachte wieder mein Sprüchlein vor, und der Kapitän war bereit und ließ uns einsteigen. Die Fahrt ließ uns für einige Zeit den Krieg vergessen. Um 16 Uhr landeten wir endlich in Danzig. Wir bedankten uns beim Kapitän und zogen in Danzig ein.

   Bevor ich von Angerburg fortmusste, hatte mir die Nachbarin, Frau Störmer, die Anschrift ihres Sohnes in Danzig gegeben. Das fiel mir jetzt ein, und ich sagte zu Skerra: ,,Hermann, die Nacht bleiben wir noch hier, aber morgen früh gehen wir beide auf Quartiersuche." Am Morgen des 6. Februar fanden wir die Wohnung. Wir wurden von Herrn Störmer und dessen Frau eingeladen, zum Mittagessen zu bleiben. Nach dem Essen sagte Herr Störmer: ,,Da Sie zusammen vier Mann sind, kann ich Sie leider bei mir nicht aufnehmen. Ich habe aber eine andere Lösung. In der Johgasse 68 hat mein Schwager Höwner eine Wohnung die er bereits verlassen hat und die Sie benutzen könnten. Die Schlüssel zu der Wohnung habe ich." Noch am selben Tag zogen wir in unser Quartier ein.

   Da viele Angerburger über das Auffanglager mussten, hatte sich bald herumgesprochen, wo wir uns aufhielten. So war es kein Wunder, als am 8. Februar Frau Gwiasda und Frau Koch bei uns eintrafen. Bei einem Spaziergang traf ich am 10. Februar auch unseren stellvertretenden Bürgermeister Behrend. Ich erzählte dieses Zusammentreffen meinen Leidensgenossen und wir waren alle erstaunt, als Behrend am nächsten Tag bei uns auftauchte. Er kam auch gleich zur Sache: ,,Na, Herr Brozio, ich nehme an, dass Sie die Vermögensunterlagen der Stadt gut bis hier gebracht haben. Nur haben wir vor der Abreise vergessen, ein Verzeichnis anzulegen, was bei der überstürzten Abreise zu verstehen ist. Es wäre aber gut, wenn ich eine Aufstellung bei mir hätte, die Sie unterschreiben müssten." Darauf erwiderte ich: ,,Ist gut, Herr Bürgermeister, ich will gern die Aufstellung machen und bringe sie Ihnen im Laufe des Tages nach Langfuhr. Am besten, ich nehme die Unterlagen mit, und Fräulein Scheiba, meine Sekretärin, macht auf der Schreibmaschine die Aufstellung, und morgen bringe ich Ihnen die Unterlagen zurück."

   Skerra und alle anderen waren Zeugen der Unterredung. Nach vielem Überlegen händigte ich die Tasche mit den Alle wollen auf's Schiff Unterlagen aus. Ich wartete den nächsten und den übernachten Tag auf Behrend mit den Unterlagen. Als er nicht kam, meinte Skerra: ,,Du, Otto, da stimmt was nicht. Komm, wir fahren sofort nach Langfuhr." Als wir in seinem Quartier ankamen, wurden wir von Fräulein Scheiba empfangen. Auf meine Frage, ob ich die Unterlagen haben könnte, sagte sie: ,,Eine Aufstellung habe ich nicht gemacht. Herr Behrend ist sofort mit den Unterlagen zum Senat der Stadt Danzig gefahren und hat sich aufgrund der Unterlagen eine Ausreisegenehmigung geben lassen." Ohne Genehmigung durfte keine männliche Person Danzig verlassen. Da er verschwunden war, musste ich, um aus Danzig herauszukommen, die Meldestelle aufsuchen und um eine Ausreisegenehmigung bitten. Zum Glück hatte ich eine Bescheinigung des Bürgermeisters vom 23. Februar, die ich vorlegte. Nach langem Hin und Her wurde mir die Genehmigung zur Ausreise erteilt. Auch Skerra und Kafka, beide kriegsbeschädigt, bekamen die Genehmigung. Salz musste sich in der Kaserne beim Volkssturm melden.

   Es war der 16. Februar, als wir Danzig verließen. Die Fahrt ging über Stolp nach Stolpmürnde, wo wir abends eintrafen und ins Dorf Zietzen weitergeleitet wurden. Wir fanden Unterkunft bei Bauer Pollex und blieben bis zum 19. Februar. Wir wurden sehr gut aufgenommen, konnten in Federbetten schlafen und auch die Verpflegung war erstklassig. Leider konnten wir hier nicht länger bleiben, denn ich wollte ja Damgarten erreichen, wo ich meine Familie vermutete.

   Am 21. Februar sind wir von Stralsund abgefahren Richtung Damgarten. Die Adresse hatte ich meiner Frau Weihnachten 1944 bei ihrem Besuch in Angerburg gegeben. Leider traf ich keinen an, es gab auch kein Lebenszeichen. Es hieß also für mich abzuwarten. Damit die Zeit nicht zu lang wurde, habe ich mich nützlich gemacht, habe Holz gesägt, gehackt und eine runde Pyramide gebaut. Da ich von meinen Angehörigen nichts hörte, und auf meine Briefe und die Anfrage bei der Zentral-Anschriften-Vermittlungsstelle Berlin keine Antwort bekam, musste ich annehmen, dass meine Frau mit den Kindern noch in Ostpreußen war. Als am 1. April bekannt gegeben wurde, dass die Ostpreußen, die noch in Damgarten waren, mit einem Zug die Stadt Richtung Westen verlassen könnten, bin ich geblieben, in der Hoffnung, doch noch meine Familie zu finden. Nach dem 2. April zogen täglich Kolonnen von Häftlingen durch die Stadt.

   "Als am 30. April SS-Männer durch die Stadt zogen und auf weiße Fahnen Jagd machten - viele Bürger hatten Laken aus dem Fenster gehängt - wusste ich, dass der Russe nicht mehr fern war. Am 2. Mai rückten die ersten Panzer ein, ihnen folgten bespannte Fahrzeuge. Die Russen drangen in alle Häuser ein und durchsuchten sie. Was sie gebrauchen konnten, nahmen sie mit.

   Es war noch keine Woche vergangen, da befahl der russische Kommandant, dass alle Flüchtlinge aus und wieder zurück nach Hause Ost- und Westpreußen die Stadt innerhalb von 24 Stunden zu verlassen hätten und in ihre Heimatorte zurückkehren müssten. In Ostpreußen sei wieder Ruhe und Ordnung eingekehrt. Es wurden Passierscheine ausgestellt, die aber, wie sich später herausstellte, keinen Wert hatten. Ich habe mir einen kleinen Handwagen besorgt, auf den ich das wenige Gepäck von Frau Koch und ihrer Tochter sowie meine Habseligkeiten verpackte.

   Mit dem Treck zurück nach Hause  Am 7. Mai verließen wir Damgarten und stießen vor der Stadt auf einen langen Handwagentreck, dem wir uns anschlossen. Er bewegte sich auf Stralsund zu. Unterwegs wurden wir öfter angehalten und nach Uhren und Ringen untersucht. In Stralsund wurden wir in einer Realschule untergebracht und durften nicht weiterziehen; wir bekamen als Verpflegung alle vie?r Tage ein Brot, mussten uns aber schon acht bis zehn Stunden vor der Ausgabe vor dem Bäckerladen aufstellen. Sonst lebten wir von Kartoffeln. Am 1. Juni ging es weiter bis Greifswald, das wir und nach einer Kontrolle durch die Russen erreichten. Am 10. Juni erreichten wir Insterburg. Wir mussten mehrmals umsteigen auf Züge, die nach Osten fuhren. In Stettin und Stargard mussten wir die Gleise vom Schmutz reinigen, wir bekamen von den Russen Strauchbesen in die Hand gedrückt und wurden bewacht.

   In Korschen bestiegen wir einen offenen Wagen, der große Kisten mit Maschinen geladen hatte. Wir img src="paz_ostpr_09.jpg" class="gerade" alt="zurück nach Hause" width="320" height="320" versteckten uns zwischen den Kisten und erreichten am 10. Juni unsere Endstation Insterburg. Wir hielten uns hier nicht länger auf und zogen mit dem Handwagen in Richtung Angerburg. Da es spät geworden war, suchten wir uns ein Quartier in der Nähe von Trempen, wo wir übernachteten. Dann machten wir noch einmal Rast in Sobiechen.

   Am 11 Juni gegen Abend erreichten wir Angerburg. Von Weitem sah es so aus, als ob die Häuser noch alle unversehrt geblieben seien. Als wir aber in Angerburg einrückten, sahen wir die Zerstörung, alle Häuser waren ausgebrannt. Es gab nur noch Ruinen, hier und da stand noch ein Haus, das unversehrt war. Wir zogen über die Bahnhofsstraße zur Bismarckstraße, um zu sehen, ob meine Wohnung noch heil sei. Das Haus stand, aber meine Wohnung war von einer polnischen Familie bewohnt.

   Wir gingen dann zur Königsbergerstraße und trafen unterwegs Herrn Banz. Auf unsere Frage, wo wir unterkommen können, sagte er, wir müssten uns bei Bürgemeister Wiese, der in der Freiheitsstraße, hinter dem Krankenhaus wohnte, anmelden, der uns dann eine Unterkunft zuweisen würde. Wir meldeten uns sofort bei Wiese und bekamen eine Unterkunft im Haus Hundertmark zugeteilt. Herr Banz sagte mir auch, dass wir uns bei der russischen oder polnischen Kommandantur melden müssten, und empfahl uns, zur russischen Kommandantur zu gehen. Ich sollte aber bei der Wahrheit bleiben und auch angeben, falls ich in der Partei war. Die Russen hätten Listen über die Parteimitglieder und wüssten Bescheid. Im Haus Hundertmark bezogen wir eine Stube im ersten Stock und machten es uns, soweit es ging, bequem.

   Da ich ?am 12. Juni Geburtstag hatte, meldete ich mich erst am 13. Juni bei der russischen Kommandantur, die mir auch Herr Podranski, den ich am 12. Juni traf, vorschlug. Er meinte, er würde dafür sorgen, dass ich ihm bei der Bedienung der Öfen in der Bismarckstraße helfen könnte. Es kam aber alles anders. (Fortsetzung folgt)
>> Quelle: Preußische Allgemeine Zeitung 22.Januar 2021 <<

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   Suche mit glücklichem Ausgang

   Otto Broszio fand seine Familie im Dorf Trautenau - Fortsetzung der Erinnerungenn des Angerburger Stadtkassen-Angestellten
   von Otto Broszio

   Ich begab mich am 13. Juni 1945 mittags zw Kommandantur in Angerburg und wurde nach Aufnahme der auf der Flucht vor dem Feind Personalien in einen Keller geführt. Die russische Kommandantur befand sich in der Stadtsiedlung. Nach zirka drei Stunden wurde ich herausgeholt und in ein Haus gebracht, wo mir und zwei anderen Gefangenen etwas zu essen vorgesetzt wurde. Nun wurde ich abwechselnd mehrmals bei Tag und bei Nacht verhört.

   Ein paar Tage saß ich mit einem Zivilrussen zusammen, der jeden Tag von seiner Frau etwas Essbares durchs Kellerfenster zugesteckt bekam. So bekam er an einem Tag zwei gekochte Eier und etwas Brot. Er fing gleich an zu essen, und als er meinen verlangenden Blick sah, bekam er Mitleid und gab mir ein Ei ab. Ich bedankte mich und versprach ihm, falls ich hier herauskommen sollte, von meinem Tabak, den ich in der Wohnung hatte, zu geben. Darauf antwortete er: ,,Du nicht haben Tabak. Offizier hat alles mitgenommen, auch Anzug du nichts haben."

   Am nächsten Tag sollte ich einen Stall säubern. Ich musste dabei an der Küche vorbei, in der für die Offiziere gekocht wurde. Da das Fenster offenstand, blieb ich stehen und sah hinein. Ich sah Frau Roszies, die gerade Frikadellen briet. Als sie mich sah, nahm sie kurzerhand eine Frikadelle von der Pfanne und gab sie mir. Da der Russe schon ,,dawei, dawei" schrie, konnte ich das gute Stück nur noch schnell in der Tasche verschwinden lassen.

   Ausharren in Kellern Am 12. Juli musste ich auf einen Lkw steigen. Die Fahrt ging nach Goldap. Ich wurde in einen Keller in der Angerburger Straße eingesperrt, wo schon andere Gefangene saßen. Nun begannen wieder die üblichen Verhöre bis zum Umfallen. Auch meinen Lebenslauf musste ich wieder schreiben. Jeden Morgen wurden wir zu einem Bach geführt, wo wir uns waschen konnten. Hierbei fanden wir Liebstöckel und würzten damit unsere Wassersuppe. Bei dieser Ernährung wäre ich bestimmt verhungert, wenn ich nicht ab und zu zum Kartoffelschälen in die Küche beordert worden wäre.

   Während des Marschs zurück nach Angerburg wurde ich von einem russischen Lkw eingeholt. Ich winkte mit meinem Zettel. Ob der Russe lesen konnte, weiß ich nicht, jedenfalls durfte ich aufsteigen, wobei mir ein Russe behilflichwar, und konnte bis Budden mitfahren. Ich ging weiter und wurde sehr bald von einem Jagdwagen eingeholt. Der Wagen hielt und ein russischer Offizier winkte mich heran. Als ich nahe am Wagen war, erkannte ich ihn. Es war der Leutnant, der mich zuerst in Angerburg verhört hatte. Ich hielt ihm die Bescheinigung hin, und nachdem er sie gelesen hatte, befahl er mir, zum Kutscher auf den Bock zu steigen. Dieser war ein Bauer aus Am Walde, der die Offiziere zw Jagd fuhr. Kurz vor Angerburg hielt der Wagen und ich musste wieder absteigen.

   Am nächsten Tag meldete ich mich erst beim Bürgermeister, und dann ging ich zur nächsten Polizeistation, wie mir in Goldap befohlen. Ich meldete mich nun jeden Tag in der Dienstelle der Russen in der Bahnhofstraße. Als ich mich am 10. September wieder melden wollte, traf ich weder den Posten noch den Offizier an. Wie ich später erfuhr, war die Dienststelle aus Angerburg abgezogen worden. Jetzt gab es nur noch polnische Behörden in der Stadt. Da ich am nächsten Tag zur Arbeit eingeteilt werden sollte, meldete ich mich krank. Ich war dermaßen heruntergekommen, dass mich kaum noch die Fiüße trugen. Ich meldete mich beim Arzt und bekam sieben Tage Schonung. Als die Tage um waren, meldete ich mich im Krankenhaus und wurde von einer russischen Arztin untersucht, die mich arbeitsunfühig schrieb. Ich war nun frei von Auflagen und konnte mich frei bewegen, bekam aber als Arbeitsunfühiger weniger Zuteilung aus dem Magazin. Da ich viel Zeit hatte, nahm ich mein Körbchen und zog los. So fand ich einen Steg, der von der Freiheitsstraße über den Fluss zum Garten der Oberschule führte. Dort entdecke ich einen Apfelbaum, der noch einige Früchte hatte, die ich mitgehen ließ.

   So fand ich immer etwas, das den Mittagstisch ein wenig aufbesserte. Am meisten freute ich mich über das Die Flucht nimmt kein Ende Kartoffelfeld, das ich einige Tage später aufspürte. Es zog mich immer wieder hin zu meiner alten Wohnung in der Rademacherstraße und zum Garten, den ich angelegt hatte. Der Garten war kaum zu erkennen, so hoch war das Unkraut gewachsen. Trotzdem ging ich hinein und sah am Boden abgestorbenes Kartoffelkraut. Ich flng mit den Händen an zu buddeIn, und der Erfolg war wie ein Geschenk des Himmels. In vier Srunden war mein Körbchen voll und ich kehrte zum Haus zurück. Bei meinen Wanderungen durch die Stadt begegnete ich auch einigen Bekannten, die ich nach dem Verbleib meiner Familie fragte. Leider konnte mir keiner etwas Genaues sagen. Da einige Angerburger zurückgekommen waren, nahm ich an, dass meine Frau mit den Kindern auch eines Tages hier eintreffen würde. Trotzdem fragte ich alle Neuankommenden aus, leider immer ohne Erfolg.

   Zwischen Hoffen und Bangen So verlief die Zeit in Hoffen und Bangen bis zum 15. Oktober. An diesem Tag traf ich Frau Groppler, die bei uns gewohnt hatte. Sie konnte mir sagen, dass meine Frau mit den Kindern in Trautenau und meine Frau schwer krank sei. Ich fragte, welchen Weg sie genommen hatte. Ich wollte so schnell wie möglich zu meiner Familie. Sie sagte, sie wolle nur einige Sachen packen und in ein paar Tagen zurückgehen. Wir könnten dann zusammen reisen. Ich solle mir aber von der polnischen Kreisbehörde einen Passierschein besorgen, sonst würde ich unterwegs festgehalten.

   Am nächsten Morgen ging ich zur Behörde, die im Tepperschen Haus in der Kehlenerstraße untergebracht war, und habe eine Ausreisegenehmigung nach Trautenau, Kreis Heilsberg, beantragt. Diese wurde mir am 22. Okober ausgehändigt. Inzwischen hatte ich Umschau nach einem Handwagen gehalten, den ich zerlegt in einem Stall fand. Bei diesem Streifzug bin ich auch in die Bahnhofstraße gekommen und vor der Brücke links in den Weg eingebogen, und hier fand ich einen Sack Salz, der schwer beschädigt war. Ich habe nun das Salz, das noch zubrauchen war, zusammengekratzt und in einen Beutel getan. Es werden mindestens 30 Pfund gewesen sein. Da Salz ein sehr rarer Artikel war, ließ ich einige Pfund bei Bekannten zurück. Ich setzte dann den Handwagen zusammen und bepacke ihn für den Abmarsch am nächsten Tag.

   Arn 23. Okober begann der Abmarsch nach Trautenau. Nachmittags erreichten wir Althof bei Barten und fanden hier Unterkunft bei einer deutschen Familie. Da es am nächsten Tag stark regnete, blieben wir noch eine Nacht.

   Am 25 . Oktober ging es weiter über Barten bis Korschen. Auch hier fanden wir Unterkunft bei einer deutschen Familie. Am folgenden Tag erreichten wir am Spätnachmittag das Dorf Linglack. Es war wie ausgestorben. Da bemerkete ich eine Rauchfahne über einer alten Kate und sagte: ,,Da scheint noch jemand zu sein, wir wollen mal hingehen." Wir fanden in dem Haus zwei alte Frauen, die uns gerne aufnahmen. Sie sagten, dass die anderen Einwohner von den Polen vertrieben wurden. Da sie alt seien und keine Angehörigen hatten, verstecken sie sich tagelang.

   Wir übernachteten bei den Frauen und zogen am 27. Oktober weiter nach Trauteau. Unterwegs wurden wir von einem russischen Posten angehalten und nach Wertsachen untersucht. Ich zeigte ihm meine Bescheinigung. Ich sah, dass er den Zettel verkehrt hielt und wohl nicht lesen konnte. Darauf zeigte ich auf den Stempel und sagte: ,,Dies ist ein Dokument vom Offizier." Nachdem er den Stempel eine Weile studiert hatte, bekam ich den Schein zurück und wir konnten weiterziehen.

   Um zwölf Uhr erreichten wir wohlbehaIten Trautenau. Wir betraten ein Haus und Frau Groppler sagte, ich sollte Holstein hier warten, sie werde eines der Kinder zu mir schicken, das mich dann zu meiner Frau führen könne, sie müsse noch weiter ins nächste Dorf. Ich brauchte nicht lange zu warten, da waren beide Kinder bei mir, die ich endlich umarmen konnte. Wir gingen zusammen zum Quartier, wo ich meine Frau im Bett liegend antraf. Ich war erschüttert über ihr Aussehen, war sie doch als blühende Frau von zu Hause weggegangen.

   Wie konnte und wie sollte ich helfen? Ein Arzt war nicht erreichbar. Mein Bestreben war nun, hier herauszukommen. Es ging ein Gerücht um, dass ab und zu ein Flüchtlingszug von Bischdorf in den Westen ging. Hierauf baute ich. Den Handwagen hatte ich vorsorglich in der Scheune im Stroh versteckt. Da die Ausreisegenehmigung nur auf meinen Namen lautete, musste ich noch eine Genehmigung für meine Frau und die Kinder besorgen. Auch Frau Goldberg und deren Tochter, die mit uns gehen wollten, mussten die Bescheinigung haben.

   Ich ging also am 7. November nach Bischofstein, wo ich die polnische Verwaltung fand. Der diensthabende Beamte sprach gut Deutsch. Er redete auf mich ein, doch zu bleiben. Die Verhältnisse würden sich bald bessern und alle Deutschen würden wieder Arbeit und Brot haben. Ich konnte nur immer wieder erklären, dass es um meine Frau ging, die so schnell wie möglich in ärztliche Behandlung kommen müsse. Endlich nahm er meinen Schein und trug darauf die Namen meiner Frau, meiner Kinder Hildegard und Anneliese sowie Frau Goldberg und deren Tochter ein. Als ich ins Quartier zurückgekommen war, galt es, alles für den Aufbruch in den nächsten Tagen vorzubereiten. Abends wurde an der Tür, die durch einen Querbalken gesichert war, kräftig gepocht. Da wir nicht wollten, dass uns die Tür eingeschlagen würde, machte ich auf. Sogleich kamen ein russischer Soldat, der bewaffnet war, und ein Pole in Zivil zu uns ins Zimmer.

   Sorge um die Tochter Sie sahen sich um, zeigten dann auf meine Tochter Anneliese und sagten: ,,Du mitkommen uns Kartoffeln schälen und kochen und dann wieder zurück." Aus dem anderen Zimmer musste eine junge Frau mitgehen. Als eine Stunde vergangen und meine Tochter nicht zurück war, wurde ich unruhig und bat Frau Goldberg, mit mir nachzusehen. Wir gingen hinaus und ich rief so laut ich konnte den Namen meiner Tochter. AIs wir am Ende der Dorfstraße ankamen, hörten wir eine Stimme und sähen einen Schatten hinter einer Scheune. Es war Anneliese, die sich dort versteckt hatte. Sie erzählte, dass die beiden Männer mit ihnen bis zu einem Haus am Ende des Dorfes gegangen waren. In der Küche mussten sie Kartoffeln schälen und Flinsen backen, dann setzten sich alle an den Tisch und aßen. Nach dem Essen mussten sie das Geschirr abwaschen. Dann befahl der Russe der jungen Frau, ins Nebenzimmer zu gehen, wohin er bald folgte. Ihr zeigte der Pole das andere Zimmer und befahl, das Bett zumachen. Sie tat so, als ob sie nicht verstünde, versuchte nur ans Fenster zu gelangen und den Riegel zu lösen, was ihr auch gelang. Als der Pole auf sie zukam, nahm sie den Schemel, der vor ihr stand und warf ihn dem Polen entgegen, drehte sich schnell um und sprang durchs Fenster ins Freie.

   Nun ging es ans Packen, Wäsche und Kleidung soweit noch vorhanden, nahm jeder in seinen Rucksack. Westwärts Dann musste für Verpflegung gesorgt werden, dazu habe ich stundenlang Roggen, den ich gedroschen hatte, auf einer Kaffeemühle gemahlen. Es wurden kleine Brote gebacken, damit jeder sein Brot im Rucksack mitnehmen konnte. Endlich kam der Tag, es war der 15. November, an dem wir uns auf den Weg zur Bahnstation nach Bischdorf aufrnachten. In der Frühe holte ich den Handwagen aus der Scheune und legte die Säcke mit den Betten darauf. Da meine Frau nicht gehen konnte, habe ich die Betten so gelegt, dass sie einigermaßen sitzen konnte. Um acht Uhr früh brachen wir auf. Vier weitere Familien schlossen sich an. Der Weg führte über Bischofstein. Als wir dort eintrafen, hielten uns polnische Posten an und führten uns in eine Nebenstraße. Vor einer Scheune mussten wir unser Gepäck abladen. Die Polen nahmen alles, was sie gebrauchen konnten. Für jeden von uns blieb nur ein Stück Bettwäsche, auch an Kleidung ließen sie uns nur das Nötigste. Mir selbst zogen sie den Wintermantel aus und gaben mir einen alten Sommermantel. Sie sagten: ,,Bis jetzt haben wir gefroren, jetzt kannst auch du frieren, damit du weißt, wie das ist." Nachdem sie uns ausgeplündert hatten, durften wir weiterziehen und trafen um 17 Uhr am Bahnhof Bischdorf ein. Hier warteten wieder Polen auf uns, die es aber nur auf die Handwagen abgesehen hatten. Sie halfen noch mit abladen und zogen dann mit den Handwagen ab. Wirwarteten nun im Bahnhofsgebäude aufden Zug der nach mehreren Stunden einlief. Es waren offene Wagen, die wir besteigen durften. Bei dieser Gelegenheit nahmen die Polen noch die letzte Bettwäsche von Frau Goldberg fort und verschwanden in der Dunkelheit.

   Um neun Uhr setzte sich der Zug in Bewegung. Es war sehr kalt und wir froren in der kalten Zugluft. Der Zug fuhr nur bis Allenstein. Wir standen mehr auf der Strecke, als dass wir fuhren, und erreichten erst um 19 Uhr auf einem Nebengleis den Bahnhof. Hier mussten wir den Zug verlassen. Da meine Frau nicht gehen konnte, bat ich einen Mann, mir beim Tragen behilflich zu sein. Wir nahmen unsere Rucksäcke auf und trugen meine Frau bis zum Bahnhofsgebäude. Unterwegs folgten uns einige Polen, die mir dann meinen Rucksack abschnitten. Ich konnte mich nicht wehren, denn wir gingen durch Schlamm und konnten meine Frau nicht absetzen. So ging auch meine letzte Habe verloren.
>> Quelle: Preußische Allgemeine Zeitung 29.Januar 2021 <<