Helmut Lux

Der letzte Flüchtlingszug aus Ortelsburg

"Der letzte Zug" von Helmut Lux

Ortelsburger Heimatbote 1999 - Seiten 110 - 118

   Ortelsburg. Es war Sonntag, der 21. Januar 1945. 24 Grad Frost. Am Vortag war nachts leichter Schnee gefallen. Ortelsburg war fast menschenleer. Die wenigen, die man traf, waren in bedrückter Stimmung. Ich machte meinen letzten Rundgang durch Ortelsburg: von der Wiener Straße, an der Gastwirtschaft Bredenberg vorbei (vormals Littwak) durch die Jägerstraße, entlang dem kleinen Kolonialwarengeschäft ,,Jänisch". Weinend kam mir Frau J. entgegen: ,,Was soll nun werden"? Ich kaufte von ihr zwei Pfund Zucker und sagte, sie solle vorbeikommenden Soldaten alles umsonst geben und so schnell wie möglich Ortelsburg verlassen. Zu diesem Zeitpunkt war von unserern Zug noch nichts bekannt. ,,Ich kann doch aber nichts ohne Marken abgeben", waren ihre letzten Worte. Es war ein kleines Kauflädchen, das ich während meines ganzen Lebens nie beachtet hatte. Mich aber kannte man. Die Tränen standen in den Augen. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Noch heute erschüttert mich dieser Abschied.

    Mein Weg führte mich weiter durch die Ernst-May-Straße zum Markt. Einzelne Menschen, die meisten in großer Hast, begegneten rnir - darunter auch einige Alte. Langsam ging ich an der Bäckerei Puzicha und an der Metzgerei Chmielewski vorbei. Die Geschäfte schienen geschlossen, die Häuser leer zu sein. Oder verbarg sich doch noch hier oder da der eine oder andere Bewohner?

    Ich erinnere mich der Damen Wiesner/John aus der Drogerie in der Kaiserstraße, die mit einem kleinen vollbeladenen Schlittchen zu Fuß nach Allenstein in den Westen wollten. - Ich riet ihnen dringend ab da ich wußte, daß der Allensteiner Bahnhof bereits in feindlicher Hand war und empfahl ihnen in Richtung Bischofsburg zu gehen. - lch traf sie später in Herlord wieder. -

   Ortelsburg wie verlassen, kaum Zivilisten, keine Uniformen, egal von welcher Richtung, vielleicht habe ich auf dem Markt und auf den Straßen während meines Spazierganges 20 Menschen getroffen.

   Vereinzelt kamen Pferdewagen aus der Kirchenstraße und der Passenheimer Straße über den Marktplatz und bogen am Rathaus Richtung Eichtal - Bischofsburg nach Norden ab. Fast träumend und gedankenverloren ging ich noch einmal durch die Straßen, die 12 Jahre mein Schulweg waren. Wo seid ihr Freunde, ihr Lieben alle geblieben?.... Vorbei noch einmal an den durch Bomben beschädigten Häusern - keine Soldaten, kein Volkssturm zu sehen. Ortelsburg

   Ortelsburg lag im Sterben. In den frühen Morgenstunden hatten feindliche Flieger, aus Richtung Willenberg kommend, einen Serienabwurf von Bomben Richtung Wiener Str. - Kasernen durchgeführt, wobei auch zwei Bomben auf die Wiese vor mein Grundstück fielen. Die Kasernen, mit ihrer Flakabwehr, blieben unbeschädigt. Mein Weg führte mich weiter zum Bahnhof - die Sperre offen, der Bahnsteig voller Blut, Bettfedern und zerrissener Gepäckstücke vom letzten Kurzangriff eines feindlichen Flugzeuges. Hier vereinzelt hilflose Menschen mit Handgepäck, die noch auf einen Zug warteten. Keine Lokornotive! Keine Wagen! Die letzten beiden Züge am Freitag und Samstag waren über Bischofsburg gefahren und vermutlich schon in Sicherheit! Sollte aber noch eine Lokomotive kommen ( vielleicht über Willenberg ), dann bestände wieder Hoffhung!

   Und sie kam gegen Abend!! - Wie ein Lauffeuer verbreitete es sich: Ein allerletzter Zug würde noch ab Verladerampe Fechner in der Memeler Str. bereitgestellt mit elf geschlossenen, zwei offenen Rungenwagen und einem Personenwagen. Die Abfahrtszeit war unbekannt. Wieder karn Leben in unsere Stadt. Frauen rnit Kindern und zum großen Teil ältere Leute, mit Koffern und dem Rest ihrer Habe versuchten, den Zug zu erreichen.

   An dieser Stelle richten sich meine Gedanken auf zwei vierzehnjährige Jungvolkjungen, meine beiden tüchtigen Helfer, die unermüdlich einsatzbereit waren und mithalfen, vielen Ortelsburgern und später Zugestiegenen das Leben zu retten. Ich erinnere mich an Kurt Birkenfelder aus der Jägerstraße - den anderen Namen habe ich leider vergessen. Beiden gab ich Anweisung, Fahrräder zubeschaffen. Dann schickte ich Kurt Birkenfelder in Richtung Jägerstraße,Yorckstraße und Markt und den anderen in Richtung Kaiserstraße, Kirchenstraße, Krankenhaus, Passenheimer Straße, Luisenstraße und Markt (den südlichen Teil). Sie sollten ausschreien und jeden Passanten verpflichten, durch Mundpropaganda weiterzugeben, daß noch ein Zug - aber sofort - ab Sägewerk Fechner abfährt, (angenommene Abfahrtszeit in zwei Stunden.) was war ich glücklich, als die beiden Jungen rechtzeitig zurück waren und den Befehl ausgeführt hatten,.... denn jeden Moment konnte der Zug Ausfahrt bekommen. In Richtung Wiener Straße, Orlauer Straße, Siedlung Memeler Straße, funktionierte die Mundpropaganda, und immer neue Flüchtlinge rnit Handgepäck und Schlittchen aus allen Richtungen trafen ein. Vom Stellwerk aus wurden Eisenbahnerfamilien und durch Weitersagen weitere Familien benachrichtigt.

   Langsam wurde es dunkel. Der Himmel glasklar. Der Mond erleuchtete zeitweise die Schneelandschaft. In der Ferne Geschützdonner. 24 Grad Frost. Ortelsburg lag unter der Schneedecke des Vortages wie unter einem Leichentuch. Nur bei uns an der Verladerampe herrschte aufgeregtes Treiben. Irnmer wieder - ohne Ende - trafen über Schienen und Straßen neue Flüchtlinge - Menschen in Verzweillung - mit ihren Koffern, Betten, Decken und Schlittchen ein.

   Inzwischen war es 23 Uhr geworden. Wir hatten breits Ausfahrt. Viermal wurde die Abfahrt verschoben; irnmer wieder trafen weitere Ortelsburger ein. Es ist schwer, Menschen zurückzulassen. Noch heute klingt es mir in den Ohren: ,,Warten Sie, warten Sie Herr Luxchen, meine Eltern kommen noch in 10 Minuten". Die Nacht wurde immer dunkler, In der Ferne - Richtung Schiemanen - war ein Flugzeug zu hören. Es müssen dort Bomben gefallen sein, denn der Himmel färbte sich glutrot. Aus unserer Lokomotive - voll angeheizt - schossen Funken in den Himrnel. Wegen etwaigen Fliegerangriffs wurde nach Rücksprache mit dem Heizer sofort ein Brett auf den Schornstein gelegt, was auch kurzfristig half. Das Brummen des Flugzeugs war erheblich näher gekommen. Welch eine Erleichterung! Es verschwand wieder, ohne uns entdeckt zuhaben. Das Brett fing plötzlich hell an zu brennen und wurde schnell gelöscht. Inzwischen hatte der Mond die Nacht taghell gemacht, und unser schwarzer Zug mit den Menschen hob sich deutlich vom kristallfrostweißen Boden ab.

   Noch heute danke ich und ehre die Lokomotivführer meines Zuges. Obwohl wir lange schon grünes Licht und Ausfahrt hatten, befolgten sie meine Anweisungen und haben durch das mehrmalige Verschieben der Abfahrt - sowie weiterer Anordnungen unterwegs - den Ortelsburgern dieses Zuges und vielen Ostpreußen, die auf den Zwischenstationen unseren Zug stürmten, in den offenen Güterwagen bei 24 Grad Frost mitfuhren und sich an den vereisten Geländern festhielten, das Leben gerettet. Leider sind die Namen der beiden unbekannt, wer kommt schon auf den Gedanken, auf der Flucht nach den Namen des Lokpersonals zufragen? Vielleicht liest einer diesen Bcricht und meldet sich. Es wäre für mich die größte Freude. Leider wurde später in Stettin die Lokomotive abgekoppelt und vom Lokführer erfuhr ich, daß er noch einen Transport zurückzufahren habe. Traurig verabschiedeten wir uns. Wir waren Freunde geworden.

   Inzwischen ist es in der Nacht des 22. Januar 2 Uhr geworden. Wir stehen immer noch an der Dampflok Verladerampe. Imrner noch treffen über die Bahngleise, schwarze Gestalten - Frauen, Kinder, Greise zu Fuß ein. Die Wagen sind bereits seit langer Zeit überfüllt. Doch einige haben es sich bequem gemacht, die Schiebetüren schnell geschlossen und wollten keine Menschen mehr dulden, bis ich die ernste Anweisung gab: ,,Menschenleben haben Vorrang! Gepäck auf die offenen Rungenwagen! Oder es bleibt zurück!!" - Wir haben alle Ortelsburger, die am Zug warteten, mitgenornrnen!

   lnzwischen war es 2.15 Uhr. Da erreichte mich die Meldung: ,,Wir haben eine Tote"! Eine alte Frau wurde ausgeladen und auf den Bahnsteig gelegt. Birkenfelder und ich hoben sie auf einen Schlitten, zogen sie die Schienen entlang zum Bahnhof und legten sie - die Nacht war wieder dunkel - zwischen dunkle Gestalten in den Wartesaal. Es war ein unheimliches Gefühl. - Nach dem Krieg traf ich den Friedhofsgärtner Gebauer in Göttingen der mir mitteilte, daß alle Toten aus dem Wartesaal noch schnellstens beerdigt wurden. -

    Wir kehrten nun schnell zu unserem Zug zurück, stellten aber voller Entsetzen fest, daß die roten Schlußlichter des Zuges in der Dunkelheit immer kleiner wurden und ganz verschwanden. Der Zug war ohne uns abgefahren! Meine Frau, niemand im Zug hatte gemerkt, daß wir zurückgeblieben waren. Die Schiebetüren der Güterwagen waren wegen der Kälte und Überfüllung schon vorher geschlossen worden. Kein Licht, tiefdunkle Nacht war in den Gütervagen.

   Wir im Tempo zum Bahnhof zurück, dann zu Fuß in Richtung Kaiserstraße, Markt, am Gericht vorbei weiter in Richtung Bischofsburg. Die Stadt war ausgestorben. Keine Stimme, kein Licht. Nicht ein Mensch auf der Straße. Vor Kaufmann Hennigs Geschäft stand ein dunkles Auto auf der Straße. Ich glaube, es war ein Opel PKW P4. AIs wir am Rathaus vorbeikamen, sahen wir die ersten Menschen, ein endloser Flüchtlingstreck aus der Passenheimer Straße, Richtung katholische Kirche - Bischofsburg.

   Nie empfand ich eine dunkle Nacht so gespenstisch. Der Mond war verschwunden. Wir überholten noch Auto im Schnee in der Stadt den Treck. An der kath. Kirche, vor der Schrniede Czichy, standen drei deutsche Panzer. Ich nahm Verbindung mit dem leitenden Oberleutnant auf und erfuhr, daß sie stündlich mit einem Angriff aus Richtung Grammen - Großer Hausee rechneten. Allenstein sei eingenommen. Wegen Benzinrnangels wurde hier aus zwei Panzern der Rest Brennstoff in den dritten Panzer umgefüllt, damit wenigstens einer einsatzbereit war. Auf unserem weiteren Fußmarsch begegneten uns 2 Züge Infanterie auf der Eichtaler Chaussee. Wir marschierten weiter und hörten unter unseren Stieleln nur das Knirschen des vereisten Schnees. Hinter Eichtal kam plötzlich ein Aulo aus der Dunkelheit, das uns zu überholen drohte. Als ich es anhielt, erkannte ich unser altes rotes Ortelsburger Feuerwehrauto, ein offener Sechssitzer mit den Ortelsburger Wappen auf beiden Seiten. lch glaube, es war ein Büssing oder Mercedes, die Reservereifen außen an den Tritthrettern. Wir baten um Mitnahme. Unsere Bitte wurde freundlich gewährt, und wir stellten uns auf die Trittbletter. Bei eisiger Kälte ging die Fahrt Richtung Bischofsburg. Im Auto saßen der Brandmeister Salzmann und Frau, dahinter Malermeister Schulz und Frau und noch ein älteres Ehepaar. Alle kannten meine Eltern und mich. Die Freude war groß, und die Worte des Herrn Schulz sind mir noch heute tief ins Gedächtnis geprägt. Sie hatten noch später eine besondere Bewandnis.

   "Herr Lux, wenn Sie helfen und Gutes tun können, so tun sie es. Es ist alles schwer genug"!

   Der Frost ließ unsere Hände fast erstarren, und in verhältnismäßig schneller Fahrt ging es über Bischofsburg bis Rößel. Hier glaubte ich, inzwischen unseren abgefahrenen Zug wieder eingeholt zuhaben. Ich hatte während der Fahrt von unserem Schicksal berichtet. Nach herzlichem Abschied und guten Wünschen machten wir uns zum Stellwerk Bahnhof Rößel auf. Das Auto fuhr nach Königsberg weiter. Der Bahnhof war geschlossen. Langsam wurde es heller. Auf dem Stellwerk, das noch besetzt war erfuhr ich, daß seit Freitag (wir hatten mittlerweile Montag) kein Zug mehr aus Ortelsburg angekommen sei. Vor Bischofsburg seien aber die Führungsräder der Lokomotive eines Ortelsburger Zuges entgleist, man warte dort auf den versprochenen Hilfszug. lch dachte sofort an rneinen Transport. Wir verabschiedeten uns, wünschten uns alles Gute und gingen auf den vereisten Schienen Richtung Bahnhof Bischofsburg. An dem Bahnhof vorbei, weit vor dem Einfahrtsignal, stand tatsächlich ein Zug; jedoch die Vorderräder der Lockwaren entgleist. Man wartete dort noch auf den versprochenen Hilfszug. - Es war nicht unser Zug. Der Lokführer fragte uns, wann denn der Zug käme. Er war mit seinem Flüchtlingstransport aus Ortelsburg schon am Freitag abgefahren. Etwa 300 m weiter dahinter an einm Waldrand auf freier Strecke stand wieder ein Zug. Langsam wurde es taghell. lch dachte,daß dies unser Zug wäre. Doch nein. Dieser Zug wartete ebenfals auf derm gleichen Gleis darauf, daß durch den angeforderten Hilfszug die Strecke freigemacht werden würde. Da es inzwischen taghell und Flugzeugdröhnen in der Ferne zuhören war, befahl ich laut schreiend: ,,Aus jedem Wagen ein Mann zu mir! Es stiegen von meinen Bekannten aus: Herr Pfarrer Koßmann, Herr Barkowski aus der Wiener Straße u. a.. Da vorläufig mit der Bergung des verunglückten Zuges kaum zu rechnen war, die Fliegergefahr rnit Anbruch des Tages immer größer wurde, empfahl ich, aus Sicherheitsgründen vorübergehend den Zug zu räumen und das Wäldchen aufzusuchen, was später auch geschah. Wir verbschiedeten uns. Und nach weiteren 200 Metern erreichten wir wieder einen Zug. Es war unser Zug!

   Das Lokpersonal war ganz erstaunt, als wir näher kamen und sie uns erkannten. Unser Fehlen war nicht bemerkt Der entgleiste Zug worden. Man hatte uns in einem der Wagen vermutet. Von nun an fuhr der Lokführer nur mit meiner Zustimmung. Es gelang mir, den Lokführer zu bewegen den Zug zurückzustoßen - die ganze Strecke war ja eingleisig bis zur Abzweigung Sensburg. Die Lok wurde umgesetzt, um auf dem Umweg über Sensburg, Korschen, Heilsberg zunächst das Ziel Königsberg zuerreichen. Die Güterwagen waren - wie imrner - geschlossen und durch Urin und Notverrichtung eingefroren. Es wurden Brechstangen besorgt und mit Gewalt die Türen auch für einen eventuellen Katastrophenfall geöffnet. Menschen stiegen aus. Kranke und Tote wurden ausgeladen, neue Flüchtlinge stiegen ein. Es ging wieder weiter. Es setzte große Unruhe ein, als man im Zug erfuhr, daß wir immer mehr gen Osten Richtung Sensburg, statt in Richtung ,,Reich" fuhren. Auf den Bahnsteigen in Sensburg, Korschen, Heilsberg, Zinten, Königsberg, auch unterwegs auf den Dörfern, standen viele Menschen, weinten und wollten alle mitgenommen werden. Immer wieder appellierte ich an unsere Leute, zusammenzurücken und Menschen zu helfen. Es gehe hier um Leben oder Tod! In Heilsberg sprach mich eine Frau mit Kindern an: ''Sie kommen doch aus Ortelsburg, nehmen Sie uns mit!". Obwohl alles überfüllt war, schafften wir tatsächlich Platz. Sie kamen mit. Wie ich später erfuhr war es dieTochter des Malermeisters Schulz, mit dem wir bis Rößel im Feuerwehrauto fuhren. Und ich dachte wieder an seine Worte bein Abschied: ,,Helfen Sie, wo sie nur können! Es ist alles doch so schwer"! Ich freute mich auch hier helfen zu können.

   lnzwischen nahm das Unternehmen katalstrophale Formen an. Die Kälte wurde unerträglich. Viele konnten nur eng eingepfercht sitzen, standen zum Teil während der Fahrt. Kleine Kinder und Säuglinge schrien nach Milch. Viele hatten in aller Eile wenig oder keine Verpflegung mitgenommen. Das restliche Brot war geteilt. In den dunklen Wagen rnit Luken und ,,Pferdefenstern" konnte man kaum den Nachbarn sehen. Der Hunger nahm zu. Nervenzusammenbrüche wurden gemeldet, Tote ausgeladen. Man schämte sich bei haltendem Zug in der Nähe austreten zu gehen. Wie rnan mir es bei Fahrtende berichtete, war ein älterer Herr hierfür ausgestiegen, hatte sich zwischen die Wagen gesetzt und ist wahrscheinlich überfahren worden. Die Fahrt ging weiter und langsam fuhr der Zug in den Güterbahnhof Königsberg ein. Hier glaubte ich, daß unser Schicksal besiegelt sei. Unzählige Flüchtlingszüge aus ganz Ostpreußen standen schon tagelang ohne Lokomotive auf allen Gleisen. Die ,,Insassen" hatten sich schon seit Tagen ,,breitgernacht". kochten draußen, wuschen Wäsche, schmolzen Schnee für Babys und kleine Kinder. Alles sah bei unserer Einfahrt nach einem großen Zigeunerlager aus.

   Meine größte Sorge war, daß man auch uns die Lokomotive fortnähme. Mit dem Lokführer und Heizer Königsberger Hauptbahnhof1 vereinbarte ich, in keinem Fall die Lokomotive abzuhängen, ohne mit mir Rücksprache zu halten, was sie mir auch versprachen. Als die Lok zum Kohle- und Wasserfassen beordert wurde, blieb ich mit meinen beiden ,,Helfern" auf der Lok. Anschließend versuchte ich vom Stellwerk aus, meinen Katastrophenzug mit den Toten dem Reichsverteidigungskommissar, der ja in Königsberg sein sollte, zu melden, mit dem Ziel, Einfahrt zum Hauptbahnhof zu erhalten. Nur fort vom Güterbahnhof! Nach mehrfachen Versuchen meldete sich die Gegenseite, daß eine Einfahrt zum Hauptbahnhof nicht möglich sei. Ich verlangte darauf dringend Verpflegung, da keine Nahrung für Kinder und alte Menschen vorhanden war. Man antwortete mir, ich könnte auf Bahnsteig 2 einen Sack Bonbons abholenl Dann war die Leitung unterbrochen. Jetzt griff ich zum letzten Strohhalm und ließ mich mit der Reichsbahndirektion, Vorstädtische Langgasse Königsberg - meiner ehemaligen vorgesetzten Dienststelle - verbinden, mit der Bitte, den Herrn Reichsbahnpräsidenten Dr.Berndt - der mich persönlich eingestellt hatte - zu sprechen. Die Verbindung klappte, man kannte mich wieder! Mein Vater war auch über 30 Jahre dort im Dienst gewesen. Ich schilderte dcn Flüchtlingszug mit den Erfrorenen aus Ortelsburg. Man ließ mich warten. Dann plötzlich mit einem Gruß: ,,Sie bekommen sofort Einfahrt auf Gleis 4 Hauptbahnhof"! lch kann das Glücksgfühl hier einfach nicht beschreiben. Es war unsere Rettung. Ich lief über alle Gleise zu unserem Zug. Unsere Lok stand schon angekoppelt, das Einfahrtsignal war schon auf grün gezogen. Unser Lokführer fuhr aber nicht los und wartete auf mich.

    Der Reichsbahndirektion Königsberg - in Sonderheit Herrn Reichsbahnpräsidenten Dr.Berndt - meinen tiefsten Dank für die Einfahrtgenehmigung in den Hauptbahnhof in Königsberg. Zugleich ein hohes Lied allen Eisenbahnern der gesamten Heimat Ostpreußen und der Nachbardirektionen, die bis zum letzten Atemzug dort ihre Pflicht erfüllten, obwohl der Feind bereits Allenstein eingenommen hatte. Ich erinnere mich an einen Schrankenwärter, der mir, als ich ihn bei einem Halt schnell aufsuchte, sagte: ,,lch kann doch meinen Posten nicht verlassen. es wollen doch noch so viele raus ..." und das, obwohl die Strecke eingleisig war und mit keinern Zug mehr wegen Feindnähe zu rechnen war.

   Auf dem Hauptbahnhof Königsberg angekommen, haben wir rnit drei Mann den versprochenen Zweizentnersack Königsberger Hauptbahnhof2 Bonbons von Gleis 2 abgeholt und warfen anschließend zwei Zentner Bonbon für ca. 1.100 Personen durch Fenster und Türen in die Güterwagen. Es gab wie überall kaum mehr Bahnhofsbetreuung. Das war die Marschverpflegung für den ganzen Zug!

   Königsberg war in Alarmverfassung. Grausame Nachrichten waren von der Einnahme Allensteins durchgedrungen. Feindliche Spitzenverbände versuchten, hinter Marienburg Ostpreußen abzuschneiden. Alles mußte schnell geschehen, denn die Sirenen gaben Fliegeralarm. Hastende Menschen versuchten noch, auf unseren Zug zu springen. Trittbretter, Bremserhäuschcn, alles war überfüllt! Und doch nahmen wir noch einige mit. Um Platz zu machen. gingen meine Frau und ich auf die Lokomotive.

   In Braunsberg wurden uns 5 Personenwagen mit Verwundeten aus einem Lazarett angehängt. Die Wagen wurden später in Stettin abgekoppelt. Inzwischcn haben beherzte Frauen bei kleineren Halts Lebensmittel, Milch und sogar ein kleines Kanonenöfchen besorgt. Doch die Flucht blieb besonders für die Alten unbeschreiblich hart. Wer bescheiden war, hatte auch fast nichts zu essen. Die Fahrt ging weiter nach Marienburg. Hier hatten wir an der Nogatbrücke einen Halt von vielen Stunden. Züge standen hintereinander auf Sichtweite. Es war Nacht. Dem Vemehmen nach waren russische Panzer durchgestoßen und mußten durch ostpreußische Truppen unter Leitung von General Hosbach zurückgedrängt werden. Die Eisenbahnstrecke mußte freigekämpft werden. Noch hatten wir nicht die Weichsel überquert.

   Langsam zogen alle Züge an, und unser Zug blieb genau auf der Brücke über der Weichsel nach kurzer Fahrt wieder stehen. Ich wollte mich nach dem Grund erkundigen. Welch ein Glück, daß ich noch beirm Hinuntergehen von der Lok rechtzeitig erkannte, daß die Eisenplanken entfernt waren und die Brücke zur Sprengung fertig gemacht war. Es war ja Nacht; ich wäre durch die Schwellen in die Eisschollen der Weichsel gestürzt. Hätte ich die Messinstange losgelassen, so wäre ich spurlos in dem Treibeis der Weichsel verschwunden. Auch das bleibt mir unvergessen. Die Stunden des Halts auf der Weichselbrücke hatte ich nicht gezählt. Sie waren eine Unendlichkeit. In der Ferne waren Panzerabschüsse zu hören. Auf den Wiesen standen überall Fuhrwerke und Trecks. Plötzlich ging es weiter. Der nächste Halt folgte nach ca. 10 Kilometer mitten irn Wald. Hier waren wir in tiefer Die Weichselbrücke Nacht mit, Gott sei Dank, geringer Geschwindigkeit auf einen vor uns auf freier Stecke stehenden Lazarettzug aufgefahren. Es entstand zum Glück nur geringer Sachschaden, leichte Personenschäden im letzten Wagen des Vorzuges. Meldung von vorne: ,,Feindberührung. Weiterfahrt nicht vor einer Stunde". Hier stiegen aus allen Wagen viele Leute aus, um sich die Füße zu vertreten. An unserem Halt lag eine kleine Gastwirtschaft. Auch der alte Kaufmann Konrad aus der Wiener Straße mit seiner hochbetagten Schwester verließ den Zug, um, wie er sagte, sich aufzuwärmen. Unter Zurücklassung ihres Gepäcks wollten bzw. konnten sie nicht mehr weiter. Sie waren zu geschwächt. Ich flehte sie an; mein Zureden, wenigstens bis Stettin zu kommen, half nichts. Lieber wollten sie sterben. Traurig ließ ich meine ehemaligen Nachbarn zurück. Vor mir steht heute noch im Traum der alte, weinende Herr Konrad.

   Langsam ging die Fahrt weiter, dann wieder Stillstand. Einige Kugeln schlugen später in unseren ,,Gepäckwagen". Es war plötzliches Maschinengewehrfeuer hinter uns. Uns folgte noch ein Zug, es war der letzte über die Weichselbrücke; dann soll sie gesprengt worden sein. Von der nächsten Blockstation fragte ich an, ob wir nicht das linke 2. freie Gleis benutzen könnten, da doch wohl kein Gegenverkehr mehr zu erwarten wäre. Seit unserer Abfahrt aus Marienburg war kein Gegenzug mehr gekommen. Hier rief ich laut vor Freude aus, daß alle Wagen es hören konnten: ,,Ortelsburger, wir sind gerettet! Nun danket alle Gott!" - Ich hatte in den Jahren diese Worte vergessen, bin aber bei den Ortelsburger- und auch Ostpreußentreffen mehrmals darauf angesprochen worden.

   Vielleicht hatte rneine Anfrage, das linke 2. Gleis zu benutzen, etwas bewirkt. Wir bekamen bei nächster Gelegenheit auf dem linken GIeis Frei Fahrt und waren dieser Schießerei entgangen. Anschließend ging es quer durch Pommern über Neustettin nach Stettin. Hier wurden die Lazarettwagen abgehängt, und (was uns alle sehr traurig stimmte) man nahm uns die Ortelsburger Lok weg! Es war wirklich ein trauriger Abschied von unseren Freunden, unserem Lokpersonal aus Ortelsburg. Ich erfuhr nur, daß unsere Lok unter Schwierigkeiten aus Polen über Willenberg gekommen war, habe aber nicht nach Namen und Standort von Lokführer uncl Heizer gefragt. Wer kommt bei der Flucht auch schon auf solche Gedanken? Sollte einer von beiden hier die Zeilen lesen, ich würde ein großes Fest veranstalten. Bitte, bitte melden! Die Stadt Ortelsburg wird Ihnen ewig dankbar sein.

   Vom Halt in Neustettin ist mir noch ein schreckliches Bild in Erinnerung. Unser Zug fuhr gegen Neu Stettin 4 Uhr morgens auf den Bahnsteig ein. Von weitem konnte man schon auf einer Seite des Bahnsteigs Berge mit Planen bedeckt und total verschneit erkennen. Es waren Tote, Erfrorene, aus den Zügen entladen worden. Abgebrochene Arme, steifgefrorene beschneite Beine lugten unter den Planen hervor. Auch von uns wurden hier Tote, wie zwischendurch auch auf anderen Bahnhöfen ausgeladen. Ganz besonders hart hat es diejenigen getroffen, die auf unseren beiden offenen Güterwagen mitfuhren und bedeckt mit Decken und Planen, zwischen Kisten, Koffern und Kartons erbärmlich froren. Unser Zug war ja in Ostpreußen fast auf allen Bahnhöfen ,,gestürmt" worden. Niemand war zurückzuhalten. Rette sich, wer kann! Ich muß noch an die vielen Fuhrwerke denken, die an der Weichselbrücke standen. Viele ließen Pferde und Wagen stehen, bestürmten die Züge und versuchten, rnit aller Macht über die Weichsel zu kommen. Sie hängten sich zwischen die Zugwagen, fuhren auf Trittbrettern, bestürmten jeden Viehwagen. Ein grausiges Bild für mich in Neustettin, als ich die Stufen zu einem Bremserhäuschen bestieg: Beim Öffnen der Tür fiel mir eine ca. 30 Jahre alte Frau mit einem Kind im Arm entgegen und hätte mich beinahe in die Tiefe mitgerissen, beide tot, erfroren. Sie blieben auf dem Bahnsteig unter den Zeltplanen. Die Anzahl der entladenen Toten während der ganzen Fahrt bleibt unbekannt. Kranke und Verwirrte wurden mir gemeldet. Doch wie konnte man helfen. Es war furchtbar. Ab Neustettin wurde es langsam besser. Obwohl Tag und Nacht Flüchtlingszüge durchkamen, schien Pommern noch ,,im Frieden" zu leben. Die Verpflegung wurde besser. Bahnhofsmission und Rotes Kreuz brachten Brot und heiße Getränke. Meine Jungens und ich schafften von einer naheliegenden Molkerei 10 Pakete Butter - und, wo es möglich war - auch Brot heran. Viel zu wenig für den ganzen Transport. Es stellten sich keine Männer, nicht einmal zum Holen der Verpflegung zur Verfügung. Von den Frauen hatten alle Angst, daß sie zurückblieben. Es war ja keine Neuigkeit, daß bei einem Halt plötzlich nach einem kurzen Pfiff der Zug sich wieder in Bewegung setzte. Die Fahrt durch Pommern wurde zur Unendlichkeit. Überall Iange Aufenthalte. Man wußte wohl nicht, wohin der Zug geleitet werden sollte.

   Preußisch Stargard wäre beinahe einigen Ortelsburgerinnen zum Verhängnis geworden. Bei einem etwas längeren Halt versuchten sie, Milch zu besorgen. Sie hatten sich abgemeldet. Ich stand am letzten Güterwagen und wartete besorgt auf die Frauen. Plötzlich pfiff der Lokführer und fuhr sofort an. Die Frauen schrien und kamen angelaufen. Welch ein Glück, daß es mir beim bereits angefahrenen Zug beim letzten Wagen gelang, den Bremsschlauch zu öffnen. Die Bremsen wurden blockiert, und die beiden Frauen sprangen schnell in den halb geöffneten Güterwagen. Bei einem Ortelsburger Treffen in Essen erinnerte mich eine der Frauen daran. daß sie es war und bedankte sich nochmals.

   Mir wurde ein Fall bekannt, wo Kinder mit uns weiterfuhren, die Mutter aber nicht mehr rechtzeitig zurn Zug zurückkam. Mitfahrende nahmen sich der Kinder an. Langsam rollte der Zug durch Pommern und Mecklenburg. Unterwegs stiegen einige zu ihren Verwandten aus, ohne Abschied, andere stiegen ein. Auf den Bahnhöfen in Mecklenburg gab es jetzt fast überall heißen Kaffee. Mecklenburg lag noch im tiefen Frieden, und man verfolgte die Nachrichten, Königsberg eingeschlossen, der Russe drängte auf Berlin zu.

   Unterwegs wurde in einem unserer Güterwagen während der Fahrt auf Stroh und Decken ein kleines Mädchen geboren - Dorothea Symanzik. Ist sie nun Ortelsburgerin oder ,,Pomeranze"? Familie Symanzik stammte aus der Orlauer Straße. Die Ortelsburger Hebamme Frau Müller, die Rote-Kreuz-Helferin Frau Haugwitz aus der Schlachthofstraße und meine Frau halfen bei der Geburt.

   Bei einem Halt besorgte ich mit meinem Helfer Kurt aus einem naheliegenden Dorf in Pomrnern heißes Wasser, Bahnhof Ribnitz Verbandsmaterial, Mull. Hier hat mich das Schicksal noch einmal vor Üblem bewahrt. Das Dorf war voller SS-Verbände. In einem kleinen Textilladen, neben der Apotheke, kam der ältere Besitzer auf mich zu und fragte mich nach der Kriegslage, ob der Russe käme. Ich sagte ihm, daß damit zu rechnen wäre und er möge ohne Kleiderkarte die ganzen Socken an die armen Landser abgeben.

   Ich war noch keine 20 Meter aus dem Haus rnit Eimer und Verbandsmaterial, als wir von einer SS-Streife, einem Sturmführer und einem Scharführer - im Volksmund Kettenhunde genannt - angehalten wurden rnit der Frage, ob ich die Äußerrungen über das Herannahen der Russen getan hätte. Meine Papiere, Sonderausweis des OB-West, wurden kontrolliert. Ich erzählte von meinem Transport aus Ostpreußen, und es gelang mir, nachdem ich meinen kleinen Kurt und er seinen Scharführer zur Seite geschickt hatte, die Sache unter vier Augen zu bereinigen, obwohl ich ihm eine verfängliche Frage vertraulich gestellt hatte: ,,Denken Sie etwa anders?" ,,Naja", sagte er, ,,auf jeden Fall darf die Bevölkerung nicht verunsichert werden". Das wäre Zersetzung und Mißtrauen gegenüber dem Endsieg.

   Es war noch einrnal alles gut gegangen. Meine Frau, die Hebamme sowie der ganze Transport erwarteten uns schon dringend. Das Signal stand schon eine lange Zeit auf Ausfahrt.

   Auf Umwegen ging die Fahrt durch Mecklenburg weiter. Man versorgte den Zug auf den Bahnsteigen von Tag zu Tag besser. Kurz vor Rostock erhielt ich den Bescheid, daß der Transport bis Rostock aufgelöst werde und auf den Zwischenstationen die Menschen auf die umliegenden Dörfer verteilt werden.

   Und so war es, Bauern warteten schon mit ihren Fuhrwerken und holten unsere Ortelsburger in die Quartiere ab. In Rostock endete nach Tagen der Katastrophenzug. Überall ein herzliches Dankeschön, Händeschütteln, auch Tränen. Tod und Leben begleiteten uns während der Fahrt. Was wird uns die Zukunft bringen? Etwa 1.100 Menschen, Ortelsburger und zugestiegene Ostpreußen, waren gerettet und dem Tode entgangen.

   In dem Zug befanden sich in der Hauptsache Mütter mit Kindern und alte Männer ..., aber auch der stellvertretende Landrat K. und ein Hauptfeldwebel N. (.....). Wo die beiden ausgestiegen sind, war unbekannt. ( .....).

   Nach meinem Wissen befanden sich in unserern Transport Frau Uhrmacher Berwein, Frau Cernhoff (ehemals Ceranski), Frau Resonnek, Frau Pawelzik, Frau Gudat und Sohn, Frau Rostek, Frau Lange und vier Kinder (ein Baby einige Tage alt), Frau Kudla und zwei Kinder, Elfriede Walpuski, Frau Malessa und fünf Kinder, Frau Marie Schneider und zwei Söhne, Kaufmann Konrad und Schwester, Wilhelm Zielonka (70 J.) u.a.m.

   Immer wieder bei den Ostpreußen- und Ortelsburger Treffen werde ich von Ortelsburgern aus meinem Helmut Lux damaligen Transport angesprochen. Viele Briefe habe ich erhalten. Dieser Dank ist für mich die größte Freude. Es bedarf keines Wortes. Menschen in tiefster Not zu helfen. Den Kindern und der Nachwelt ist dieser Bericht aus schwerer Zeit gewidmet. Möge sich ein Krieg niemals wiederholen ! Wer erinnert sich noch meiner Worte hinter der Weichselbrücke?:
    ,,Ortelsburger, wir haben es geschafft! Nun danket alle Gott"
   
   Allen Ortelsburgern und Mitgefahrenen aus meinem Zug einen herzlichen Gruß!
   Es war der letzte Zug.

   
   Die Redaktion bittet die Landsleute, die den geschilderten Transport miterlebt haben
    und sich an weitere Einzelheiten erinnern, uns davon zu berichten.
   
>> Quelle: Ortelsburger Heimatbote 1999 <<

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   Anmerkung von Kurt Rattay: Zu diesen, sich widersprechenden Aussagen verschiedener Zeitzeugen, was die letzten Flüchtlingszüge aus Ortelsburg betrift, die im Ortelsburger Heimatboten 2007, ab Seite 160 veröffentlich wurden, möchte ich etwas aus eigener Erinnerung beitragen.

   Nach dem sich am Samstag, dem 21.Januar 1945 die Nachricht verbreitet hatte daß vom Ortelsburger Bahnhof keine Flüchtlingszüge mehr abfahren werden und auch der Bahnhof Achodden(Neu Völiklingen) verlassen war, hat mein Großvater Adam Rattay auf bitten meiner Mutter die hochschwanger war, schon bereit stehendes Gepäck auf einen gummibereiften Wagen geladen und ist mit uns zum Bahnhof Neu Keykuth gefahren. Schon von weitem konnte man sehen dass auch dieser Bahnhof unbeleuchtet und schon vom Personal verlassen war.

    Nach längerem überlegen fuhr mein Großvater dann zum Bahnhof Wildenau(Jablonken) wo wir etwa um 22 Uhr eintrafen. Dort warteten noch unzählige Menschen auf einen Zug der aus Richtung Ortelsburg kommen sollte. Im Bahnhofsgebäude war schon das Gepäck der vor uns Angereisten gestapelt, ansonsten herrschte noch reges Treiben. Mein Großvater stellte unser Gepäck daneben und wartete mit uns auf den Zug der da kommen sollte. Als sich nach etwa einer Stunde nichts tat hat er schweren Herzens von uns Abschied genommen. Wir haben unseren Großvater nie wieder gesehen.............

   Am 22.01., etwa um 2:30 morgens kam entlich, ein aus geschlossenen Güterwagen bestehender Zug, Jablonken an den noch 2 Kohlenloren angehängt waren, auf denen sich quer durcheinander Gepäckstücke befanden. Die geschlossenen Wagen waren von ínnen verriegelt. Da der Zug hoffnungslos überfüllt war, und keine Aussicht bestand in einem geschlossen Wagen unterzukommen, kletterten, meine Mutter und ich auf die Gepäckstücke; mit uns noch 2 Frauen mit je einem Kinderwagen. In jedem Wagen befand sich ein Säugling, einer von etwa neun Monaten der Andere vielleicht sechs Monate alt. Die beiden Frauen waren auch aus Rohmanen, aber schon vor uns am Bahnhof in Jablonken eingetroffen. Es waren: die Frau des ehemaliegen Bürgermeisters Michael Kownatzki und ihre Tochter Marie Lekzig. Der Zug fuhr dann auch gleich weiter, bei etwa minus 22 Grad und eisigem Wind. Wir suchten unter den Planen, mit denen das Gepäck abgedeckt war, Schutz vor dem eisigen Wind. Auch die beiden Frauen zogen eine große Plane über die beiden Kinderwagen. Dass wir dieses Teilstück unserer Reise, bis in die Nähe vom Bahnhof Bischofburg überlebt haben, grenzt an ein Wunder. Unser ganzes Gepäck und das der Anderen muste auf dem Bahnhof in Jablonken zurück bleiben. Nur das war wir tragen konnten haben wir behalten.

    Wie schon unser Zugbegleiter Helmut Lux in seinem Bericht erwähnt hat wurden wir bei einem erzwungen Halt, Bahnlinien in Ostpreußen in der Gegend zwischen Rößel und Bischofburg, von ihm und anderen Männern, auf dem Kohlenwagen unter den Planen entdeckt. Er hat, zusammen mit Anderen, die verriegelten Güterwagentüren aufbrechen lassen, damit wir im geschlossenen Wagen Schutz finden konnten. Ab dann ging es uns besser. Unserem Zugbegleiter, Helmut Lux haben wir es zuverdanken das wir nicht erfroren sind. Unser Zug fuhr danach nicht mehr nach Westen sondern nach Osten, vorbei an Sensburg, Arys, Lötzen, Rastenburg. Als die Menschen bemerkten wohin die Reise ging, wurden sie unruhig und fragten warum die Fahrtrichtung geändert wurde. Diese Frage konnte Niemand zufriedenstellend beantworten. Weiter ging es über Korschen, Heilsberg, Zinten nach Königsberg. Nach dem wir bei Bartenstein von feindlichen Tiefliegern angegriffen wurden, kamen wir nach einer unbestimmten Zeit, unversehrt auf dem Königsberger Güterbahnhof an und wurden auf einem Nebengleis abgestellt. Es verbreitete sich die Nachricht das russische Panzer zum Frischen Haff vorgedrungen seien und der Schienenweg gen Westen unterbrochen ist. Meine Mutter wollte diesen Zwangsaufenthalt nutzen und ihre in der Zeppelinstraße 40 wohnende Schwägerin aufsuchen, hat es aber angesichts der unsicheren Lage nicht getan.

   Nach einem zwei Tage dauernden Aufenthalt auf dem Königsberger Hauptbahnhof setzte sich unser Zug wieder in Bewegung. Nur zwei Haltepunkte sind in meinem Gedächtniss hängen geblieben. Ein längerer Aufenhalt auf dem Hauptbahnhof in Dirschau an der Weichsel. Dort verließen einige Mitreisende den Zug in der Hoffnung auf eine schnellere Zugverbindung in Richtung Westen. Auch die beiden Frauen mit ihren Babys im Kinderwagen. Der Aufenthalt auf dem Dirschauer Hauptbahnhof erschien uns endlos lange. Zwischenzeitlich waren einige der Mitreisenden die den Zug verlassen hatten, nach erfolgloser Suche, wieder zurück gekehrt. Sie hatten die Absicht die Flucht mit diesem Zug fortzusetzen, als der sich plötzlich ohne Vorwahrnung in Bewegung setze. Den Zurückgebliebenen und auch den Weiterfahrenden war das Entsetzen im Gesicht geschrieben. Vor der Weichselbrücke hielt der Zug noch kurz um sich dann wieder in Bewegung zusetzen. Durch einen geöffneten Türspalt konnten wir unter uns die dunkelen Fluten der Weichsel sehen; es lief einem ein kalter Schauer über den Rücken. Nachdem wir die Brücke verlassen hatten und vielleicht einen Kilometer gefahren waren, hörten wir den Donner einer Detonation und sahen ein Feuer zum Himmel aufsteigen. Allen war klar, die Weichelbrücke war gesprengt worden und unser Zug war der Letzte, der über diese Brücke entkommen konnte. (Im Nachhinein haben wir erfahren daß kurz nach uns noch ein Zug die Weichsel überqueren konnte.)

   Der nächste Haltepunkt, an den ich mich erinnern kann, war Grünberg an der Oder. Dort stiegen viele Mittreisende aus um ein par Pellkartoffeln zu erhaschen, welche das Rote Kreuz verteilen ließ. Es war, nach vielen kalten Tagen, das erste warme Essen, hat aber nicht für alle gereicht. Ob die Letzten später noch etwas bekommen haben ist mir nicht bekannt. Die strenge Frostperiode der letzten Tage, in der viele Menschen in den zugefrorenen Wagen verhungert und erfroren sind, wurde durch ein leichtes Tauwetter abgelöst. Nach einem kurzen Aufenthalt setzte sich der Zug wieder in Bewegung; in Richtung Stettin, dann weiter durch Vorpommern bis Ribnitz, an der Grenze zu Mecklenburg.

    Ab Ribnitz wurden auf jeder Bahnstation zwei Güterwagen mit Flüchtlingen abgehängt. Es ging weiter über, Altheide, Bentwisch Gelbensande, Mönchhagen, Rövershagen bis Bentwisch. Die Reihenfolge der Bahnstationen zwischen Ribnitz und Rostock habe ich bis zum heutigen Tage nicht vergessen.

   Von den, in dieser Gegend weit verstreut liegenden Landgütern, standen am Bahnhof schon Pferdewagen bereit, um die verängstigten Menschen an einen, vorläufig sicheren, Ort zubringen. Auf der letzten Bahnstation, Bentwisch, kurz vor Rostock verließen auch wir und der Rest der Mitreisenden den Zug. Am 29. Januar, wurden wir auf dem Rittergutgut Groß Bussewitz, bei Rostock, von der Witwe, Frau Kleist, aufgenommen. Meine Mutter kam am 30. Januar nach Groß Lüssewitz ins Krankenhaus, wo am 31. Januar mein Bruder geboren wurde. Ich selbst verbrachte die nächsten 14 Tage bei einer aus Ortelsburg stammenden Flüchtlingsfamilie, mit der wir uns auf der Fahrt angefreundet hatten. Hier erlebten wir am 2. Mai 1945, am frühen Morgen, den Einmarsch der Russen.