Wiedersprüchliche Erinnerungen verschiedener Zeitzeugen,
zum Ablauf der Ereignisse in den letzten Tagen, vor dem Einmarsch der Russen in Ortelsburg.
Ortelsburger Heimatbote 2007 - Seite 160
“ Bericht über meine Flucht aus Ortelsburg am 20.1.1945, aufgeschrieben im Jahre 2007 von
Hildegard Lante, geb. Peter ”
Ortelsburg.
Es war Sonnabend, der 20. Januar 1945 ca. 10 Uhr morgens.
Frau Götz mit Tochter Hannelore (16 J.), Sohn Heinz (12 J.) und mein Bruder Hans Peter (14 J.) vom Galinder Weg, machten sich auf den Weg zum Bahnhof
Ortelsburg. Ich, Hildegard Peter, genannt Hilde (16 J.), war noch nicht ganz fertig und sagte: "Geht schon vor, ich komme später nach."
Gegen 11 Uhr kreisten kleine russische Flugzeuge über der Stadt und warfen Bomben. Die Stadt brannte an vielen
Stellen! Um die Mittagszeit machte ich mich bei 30 Grad Frost endlich voller Angst auf den drei km langen Weg zum
Bahnhof. Kurz hinter Bauer Kompa am Mittenwalder Weg sah ich einen mit Militär voll beladen Eisenbahnzug auf der
Bahnstrecke von Ortelsburg in Richtung Willenberg fahren. Ich war zwischen Bauer Kompa und Losch, als plötzlich zwei
oder drei Flugzeuge auftauchhten, den Zug bombardierten und mit Bordwaffen beschossen. Die Soldaten sprangen aus den
Fenstern des Zuges und liefen quer über das Feld zu Kompas Hof. Ich ließ meinen kleinen Koffer im Schnee stehen und
rannte in Panik ebenfalls dorthin. Im Hof standen Kompas mit Pferd und Wagen und wollten abfahren, als auf dem Hof
eine Bombe einschlug. Ich wurde gegen eine Hauswand geschleudert und wurde ohnmächtig. Nachdem ich wieder zu mir kam,
kehrte ich nach Hause zurück und wartete, bis es dunkel wurde. Erst gegen 4.30 bis 5 Uhr (17 Uhr) machte ich mich
endlich auf den Weg zum Bahnhof, ohne Hoffnung, meinen Bruder Hans und Familie Götz wiederzusehen. Vor der Stadt
begegneten mir zwei Soldaten, die mich ansprachen und zum Bahnhof begleiteten. Sie erzählten mir auf dem Weg, dass am
Bahnhof ein Junge sei, der immer einen Namen ruft. Es war mein Bruder Hans, der stundenlang nach mir gerufen hatte.
Ich fand auch die Geschwister Hannelore und Heinz Götz. Frau Götz war nicht zu finden. Sie hielt sich in der
Bahnhofsgaststätte auf, als diese von einer Bombe getroffen wurde. Die drei Kinder waren verschont geblieben, weil
sie während der Bombardierung draußen waren, um nach Zügen zu schauen. Nun waren wir vier Kinder alleine. Man konnte
vor Angst und Kälte kaum Schmerzen empfinden.
Am Abend um ca. 8 Uhr lief ein Güterzug ein, in den wir einsteigen konnten. Wir standen in den Wagen
gedrängt wie die Sardinen, man konnte nicht umfallen. Nach ca. einer halben bis einer Stunde Fahrt hatten wir einen Zusammenstoß einer
Lokomotive. Wir mussten alle aussteigen und warteten in einem Wald, bis der Schaden behoben war. Dann ging die Fahrt
weiter, ich denke über Bischofsburg (die Strecke über Allenstein war bereits gesperrt) nach Powangen bei Königsberg.
Hier mussten wir den Zug verlassen. Es hieß, dass der Zug für das Militär gebraucht würde.
“Kann sich jemand an den Fliegerangriff auf den Ortelsburger Bahnhof und die Fahrt nach Powangen erinnern? ( Bitte bei
der Redaktion melden).
Ortelsburger Heimatbote 2007 - Seite 161
Hans und ich wollten weiter über Pillau nach Pommern, wo bei Stolp unsere Mutter lebte.
Sie war am 8. Dez. 1944 zusammen mit meinen beiden jüngsten Geschwistern, den Zwillingen Brigitte und Georg sowie meinem Bruder Hans
dorthin evakuiert worden. Weil es Hans in der dortigen Landschule nicht gefiel, kam er nach ca. einer Woche wieder nach Ortelsburg zurück. Ich wäre ja
eigentlich auch mit meiner Mutter mitgefahren, aber ich arbeitete als Banklehrling in der Kreis- und Stadtsparkasse
und durfte meinen Arbeitsplatz nicht verlassen. Meine älteste Schwester Gertrud Peter war zu der Zeit in Allenstein
als Buchhhalterin in der Kreis-Bauernschaft tätig. Zu den Wochenenden kam sie immer zu mir nach Ortelsburg. Sie ist
seit dem 20. Jan. 1945 vermisst. So geschah es, dass mein Bruder Hans mit mir jetzt auf der Flucht war. Hannelore und
Heinz Götz entschlossen sich, zurück nach OrteIsburg zu gehen, sie dachten, sie könnten die Mutter noch finden. Es war
ein Gang durch die Hölle, zu Fuß, mit Hunger und durch Kälte. In Ortelsburg angelangt, fanden sie wenigstens den
Vater, der vom Grenzschutz zurückkam und auch seine Familie suchte.
In Powangen wimmelte der Bahnsteig voller Menschen. Alle wollten in einen Zug, der nach Pillau fahren sollte. Wir
schafften es unter großen Mühen, in den Zug zu kommen. Auch Pillau war total überfüllt. Wir fanden Unterkunft in einer
Kaserne und versuchten vergebens, beim Hotel "Zum Goldenen Anker", dem einzigen Zugang zu den Schiffen, auf ein Schiff
zu kommen. Am 5. Februar 1945 erlebten wir noch den schweren Bombennangriff in Pillau, wo so viele Menschen den Tod
fanden. Alles sah so hoffnungslos aus. Wir waren verzweifelt und hungrig. Manchmal gaben uns Soldaten aus Mitleid
etwas zu essen. Zwei junge Soldaten versteckten uns in einem Lastkraftwagen hinter Munitionskisten und nahmen uns mit
über die Fähre rüber nach Neutief. Von hier ging es weiter, teils zu Fuß, teils mit Militärfahrzeugen nach Danzig, wo
wir privat untergebracht wurden und uns etwas erholen konnten. Trotz der traurigen Situation in der wir uns befanden,
überredete ich meinen Bruder Hans, mit mir nach Zoppot zu fahren um den berühmten Zoppoter See-Laufsteg anzusehen.
Ich hebe noch heute Ansichtskarten von Danzig auf.
Nach einer Woche schafften wir es, in Danzig in einen Zug zu gelangen, mit dem wir über Stargard nach Stettin
gelangten. Gleich bei der Ankunft in Stettin gerieten wir in einen Bombenangriff. Aber irgendwie hatten wir immer
Glück. Wir ergatterten einen Zug, der uns nach Stralsund brachte, wo wir die Familien Czayka und Block fanden, die
bereits im Juli 1944 nach hierher evakuiert worden waren. Mein Bruder Hans und Erich Czayka fuhren nach Goslar im
Harz um dort für uns alle eine Unterkunft zu finden, weil wir glaubten, dass es dort nicht so mit Flüchtlingen
überlaufen sei. In der Zwischenzeit transportierte man uns nach Neetze bei Lüneburg, wo wir Ende April 1945 ankamen.
Im September schrieb ich an das Einwohnermeldeamt nach Goslar, um meinen Bruder zu suchen. Ich bekam auch Antwort,
und so kam mein Bruder nach Neetze, fand eine Unterkunft in Scharnebeck und konnte auch gleich einen Beruf erlernen.
Mein Vater wurde am 6. August 1946 aus einem Gefangenenlager bei Osnabrück entlassen.
Später fanden wir auch die Mutter mit den Zwillingen Brigitte und Georg. Im Jahre 1954 wanderte ich mit meinem Mann nach Australien aus, wo ich
auch heute noch wohne.
Ortelsburger Heimatbote 2007 - Seite 162
Erinnerungen an den Fliegerangriff am 20./21.01.1945 auf den Bahnhof Ortelsburg und unsere Flucht mit dem Zug aus
Ortelsburg - Eckard Bieber
Ich bin am 30.09.1938 in Ortelsburg, Waldstraße 4. geboren. Zum Zeitpunkt der Flucht war ich
also 6 Jahre und fast 3 Monate alt und kann mich noch an die für mich als Kind bedeutenden Begebenheiten erinnern. Leider war die Flucht
ein Tabuthema in der Familie und zwar in erster Linie wegen meiner Mutter, die den durch Kriegseinwirkung plötzlichen
Verlust ihrer Mutter (meiner Großmutter), ihrer drei Schwestern, eines Schwagers und einer Nichte jahrelang seelisch
nicht verkraften konnte, zumal sie lange Zeit auch noch unter den Folgen ihrer Verwundung litt.
Ich habe mit meiner Frau die Ortelsburger Heimatstube in Herne mehrmals besucht in der Hoffnung, im Archiv einen
detaillierten Bericht über den Fliegerangriff auf den Ortelsburger Bahnhof zu finden. Statt dessen fanden wir jede
Menge Berichte über alle möglichen "Fluchtbeschreibungen" vor und nach dem Fliegerangriff. Leider sind meine
bisherigen Bemühungen (Heimatbote, Internet), Einzelheiten über den Bombennangriff auf den Bahnhof Ortelsburg
herauszufinden, bisher erfolglos geblieben.
Ich hoffe, dass ich durch diesen Artikel im "Heimatboten" Kontakte zu Zeitzeugen herstellen kann. Mich interessieren
weitere Einzelheiten, wie genauer Zeitpunkt des Angriffs und Dauer, Verbleib der Toten, Fotos usw. Für weitere
Informationen über das Geschehen auf dem Bahnhof in Ortelsburg am Sonnnabend, dem 20. Jan. 1945 wäre ich sehr dankbar.
Sonnabend, 20.01.1945
Meine Eltern, mit mir
und meinem Bruder sowie den oben erwähnten Angehörigen der Familie meiner Mutter
versuchten am Sonnabend, dem 20.01.1945 mit einem Flüchtlingszug Ostpreußen zu verlassen. Wir warteten vormittags
stundenlang auf den Zug dessen spätere Abfahrt immer wieder angesagt wurde.
Meinen Eltern gelang es mit uns Kindern, erst unter einen stehenden Güterwagen, dann ins Bahnhofsgebäude
und dort in irgendeinen Keller zu gelangen. Während des nach meinem Empfinden stundenlangen Bombenangriffs schützte uns der
Keller. Meine Mutter und mein Bruder waren durch zahlreiche Bombensplitter stark verletzt und wurden im Keller von
Sanitätern versorgt. Irgendwann nach einer für mich endlos langen
Ortelsburger Heimatbote 2007 - Seite 163
Zeit in der immer wieder Bombeneinschläge zu hören und die Luftdruckwellen
zu spüren waren, die oft Staubwolken durch das zerstörte Kellerfenster drückten, gab es Entwarnung, und wir verließen den Keller.
Meine Mutter und mein Bruder wurden zu Krankenhaus transportiert, während mein Vater mit mir
zu den Bahnsteigen ging. Es war dunkel - vielleicht schon längere Zeit. Auf den Bahnsteigen fanden wir zahlreiche Tote zwischen den zerfetzten
Gepäckstücken und dann auch unsere toten Angehörigen, also meine Großmutter mütterlicherseits Frau Martha Jaschinski
(meine Mutter hat auch diesen Vornamen), ihre Schwester Maria Emilie mit ihrem Ehemann Gustav Walpuski (ihr fast
elfmonatiges Kind lebte und wurde in Heilsberg letztmalig von meinen Eltern gesehen) und ihre Schwester Emma Walpuski
die schwer verletzt sofort ins Krankenhaus transportiert wurde.
Die zweite Schwester meiner Mutter Emma Walpuski starb gemäß Sterbeurkunde am Sonntag,
21.01.1945 um 9 Uhr im Eisenbahn-Güterwagen. Es hieß immer in meiner Familie (wenn das Gespräch überhaupt darauf kam), dass die Schwester
meiner Mutter ein bis zwei Stunden nach der Abfahrt des Zuges in OrteIsburg gestorben sei. Also muss der zwischen
7 und 8 Uhr in Ortelsburg abgefahren sein.
Die dritte Schwester meiner Mutter Bertha Gomm war verschollen und wurde in Heiligenbeil offiziell als vermisst
erklärt. Ihr Mann war an der Front, von den Beiden haben wir nie etwas gehört. Es ist eigenartig, aber besonders
das Gesicht meiner Großmutter habe ich noch immer in Erinnerung. Die anderen Gesichter im Kreis der vielen Toten
und Verletzten glaube ich nur in Erinnerung zu haben, weil ich sie mir oft auf Fotografien angesehen habe. Da ich
kurze Zeit Schulkind war, besaß ich einen Tornister, den ich tragen durfte, und in den meine Mutter Familienurkunden
und ein kleines Album mit Fotos unserer Familie gesteckt hatte.
Sonntag, 21.01.1945 bis Donnerstag 26.01.1945
Nachdem meine Mutter und mein Bruder im Krankenhaus Ortelsburg versorgt waren, wurden wir in dem erwähnten Güterzug untergebracht,
der sehr wahrscheinlich im, oder am Sägewerk Fechner stand und am Sonntag, 21.01.1945 zwischen
7 und 8 Uhr als zweiter Zug an diesem Tage abgefahren ist (siehe den weiter unten folgenden Bericht von Frau
Herta Naglatzki, die mit dem ersten Zug abfuhr). Der Zug war vom 21. bis wahrscheinlich 25.01. nach Heiligenbeil
unterwegs. Dort ist dann unter dem 26.01.1945 die Sterbeurkunde der zweiten Schwester meiner Mutter (Emma) ausgestellt
worden (verst. am 21.01.1945 um 9 Uhr im Eisenbahnwagen). Da wir Kinder wohl versorgt waren, sind mir die
Begebenheiten des lanngen Transports nicht mehr in Erinnerung.
24.01. - 12.02.1945
Ortelsburger Heimatbote 2007 - Seite 164
12.02.1945 erfolgte unser Flug mit einer Ju 52 von Heiligenbeil nach Staaken bei Berlin und zwar nur
Martha und Udo Bieber als Verwundete und ich als "Glückspilz" ohne unseren Vater, er musste für den Lokomotivfahrdienst zurückbleiben.
Mein Bruder Udo kam ins Krankenhaus Berlin-Spandau zur weiteren Behandlung. In Berlin waren wir häufigem Fliegeralarm
ausgesetzt und mussten immer wieder den Bunker aufsuchen während mein Bruder im Krannkenhaus lag.
Am 21.02.1945 verließen wir (Martha, Eckard und Udo Bieber)
Berlin mit einem Transport und gelangten nach Clenze,
Kreis Dannenberg. Dort quartierte man uns zunächst beim Friseur W. Griebe, Lange Straße 39 a ein, dann beim Bauern
Busse in Gistenbeck, Kreis Dannenberg, wo uns unser Vater nach einem Jahr der Trennung endlich fand.
Soweit meine Erinnerungen an den Luftangriff auf den Bahnhof Ortelsburg am 20. Januar 1945 und an die Flucht danach.
Familienangehörige, die am Sonnabend, dem 20.01.1945 auf dem Bahnsteig in Ortelsburg auf den Fluchtzug warteten:
1) Martha Jaschinski, * 20.03.1890, Witwe (meine Großmutter), verst. 20.01.1945 im Bahnhof Ortelsburg durch
Fliegerangriff (Beerdigung nicht bekannt).
2) Gustav Walpuski, * 21.06.1909 (Bruder von Willi Walpuski), verst. 20.01.1945 im Bahnhof Ortelsburg durch
Fliegerangriff; Ehefrau Maria Emilie Walpuski, geb. Jaschinski, * 20.10.1909, verst. 20.01.1945 im Bahnhof Ortelsburg
durch Fliegerangriff; Tochter Hannelore, * 28.02.1944, auf der Flucht Heiligenbeil in Heilsberg letztmalig von Martha
und Friedrich Bieber gesehen worden, bis heute verschollen.
3) Emma Walpuski geb. Jaschinski,* 21.11.1911, verst. am 21.01.19 45 um 9 Uhr im Zug
nach Heiligenbeil an den Folgen
der am 20.01.1945 erlierlittenen Verletzungen durch Fliegerangriff im Bahnhof Ortelsburg, beerdigt in Heiligenbeil;
Sohn Ulrich Walpuski, * 21.11.1938; Tochter Brigitte Walpuski * 08.12.1941. Die Kinder sind etwa ein Jahr nach
Kriegsende in verschiedenen Kinderheimen gefunden worden.
4) Familie Friedrich Bieber - Friedrich Bieber, * 17.06.1911; Ehefrau Martha Bieber, geb. Jaschinski * 23.10.1913
(meine Mutter), verwundet durch Bombensplitter; Sohn Eckard Bieber, * 30.09.1938; Sohn Udo Bieber * 17.03 .1941,
verwundet durch Bombensplitter.
5) Berta Gromm, geb. Jaschinski, * 10.01.1916, seit 20.01.1945 verschollen, offiziell seit 24.01.1945 vermisst.
Neben meiner Mutter Martha überlebte nur ihr Bruder Fritz Jaschinski, * 12.05.1912, der auch der Erbe des Bauernhofes
in Neu Schiemanen war und sich am 20.01.1945 Front befand. Seine Ehefrau Erika * 27.05.1921 blieb mit ihrer Tochter
Johanne, * 03.06.1941 auf dem Bauernhof zurück und es dauerte lange, bis sie Ausreisegenehmigung erhielten. Die
Familie wohnte dann in Gelsenkirchen
Nun komme ich zu verschiedenen Berichten, die sich mit den Geschehnissen in Ortelsburg
zwischen dem 18. und 22. Jan. 1945 befassen:
Ortelsburger Heimatbote 2007 - Seite 165
Auszug aus dem Schreiben vom 11.11.2004 von Frau Herta Naglatzki, Hans-Bredow-Straße 4., 24768 Rendsburg
(Heimatort WIllenberg), die ich auf einer Busfahrt der Kreisgemeinschaft Ortelsburg in Ortelsburg kennenlernte.
Ich kann Ihnen natürlich nur meine eigenen Erinnerungen nach fast 58 Jahren an meinen eigenen
Fluchtweg und die Eindrücke davon schildern. Am Freitag, dem 19.01.1945 mussten wir unseren Wohnort Willenberg (20 km südlich von
Ortelsburg) wegen der näher rückenden Front und Bombardierung plötzlich verlassen. Am Abend sind wir dann mit einem
Militärfahrzeug bis Ortelsburg mitgenommen und dort am Ortseingang abgesetzt worden. Die Nacht verbrachten wir damit,
unser Gepäck mit dem Rodelschlitten in die Nähe des Bahnhofs zu bringen. Es war eine unheimlich ruhige Nacht (minus 20°).
Am Morgen (Sonnabend, 20.01.1945) stellten wir dann fest, dass das Bahnhofsgelände voller Menschen und ein planmäßiger Zugverkehr wohl nicht möglich war. Wir haben erfahren, dass wir einen Evakuierungsschein benötigen. Den sollten wir im
Hotel "Berliner Hof" erhalten. Mein Onkel und ich begaben uns dort hin und reihten uns in die Schlange der Wartenden
ein. Wir hatten gerade unseren Schein erhalten, da heulten die Sirenen und es gab Fliegeralarm. Wir suchten Schutz
im Luftschutzkeller des Postamts. Dort hörten wir die Detonationen der Bomben. Nach und nach kamen dort auch einige
verwundete Zivilisten und Soldaten herein. Wie lange wir uns dort aufhielten, weiß ich nicht mehr.
Als es etwas ruhiger wurde, verließen wir den Luftschutzkeller und suchten unsere Angehörigen,
die wir im Keller des Bahnhofshotels fanden. Dort warteten wir weitere Angriffe ab. Leute, die zu uns in den Keller kamen, erzählten uns,
dass zwar noch im Laufe des Tages Züge vom Bahnhof abgefahren seien, dass aber im Laufe des Vormittags ein furchtbarer
Beschuss mit Bomben und Tieffiiegergeschossen auf die wartenden Menschen erfolgt sei.
Als Russ und Staub auch in den Keller drang, verließen wir ihn. Es war dunkle Nacht und das gegenüberliegende Hotel
(Neumann?) brannte lichterloh. Der Bahnhof sah gespenstisch aus, und ich fand dort keine Menschen, nur Berge von Gepäck usw.
Unser Häuflein stand verzweifelt da, als ein Mann (vermutlich ein Bahnhofsbediensteter) vorbei kam und uns sagte,
dass noch ein Zug vom Sägewerk Fechner zusammengestellt und abfahren würde. Mit Hilfe von zwei Soldaten sind wir dann
dort hingegangen. Ein Güterzug wurde dort bereitgestellt, und wir sind in einen Güterwagen gestiegen. Es hat noch eine
geraume Zeit gedauert, bis wir eine Lok vor den Zug bekamen und nach einigem Rangieren losfuhren. Es war die Nacht vom
20. zum 21.01.1945. Genaue Zeitangaben kann ich nicht machen. Wir sind dann auf verschiedenen Nebenstrecken,
Bischofsburg, Zinten, Braunsberg, Richtung Elbing, zurück nach Braunsberg, Heiligenbeil usw., nach etwa 7 Tagen im
Samland gelandet und ausgeladen worden. Soweit der erste Teil unseres Fluchtweges.
In den ersten Tagen sind wir einmal einem Güterzug aus Ortelsburg begegnet, der auch Patienten vom Ortelsburger
Krankenhaus befördert hat. Die Fahrt im Zuge hat so lange gedauert, weil die
Ortelsburger Heimatbote 2007 - Seite 166
Russen die Wege über Allenstein, Deutsch Eylau und dann auch Marienburg, Elbing, schon besetzt hatten. Ein Entkommen
in den Westen war daher nicht mehr möglich.
Gezeichnet Herta Naglatzki
Anmerkung von Eckard Bieber:
Offensichtlich stimmen unsere Daten überein. Am Sonntag, dem 21.01.1945 müssen ab
Ortelsburg mindestens zwei Züge gefahren sein: einer mit Frau Herta Naglatzki (nachts 20./21.01) - siehe ihren Bericht
- und der zweite Zug mit meiner Familie (21.01.1945 ca. 7-8 Uhr). Auch unser Zug muss vier bis fünf Tage bis
Heiligenbeil unterwegs gewesen sein .
Was den erwähnten Fliegeralarm betrifft, müssen wir ihn auch auf dem Bahnhof gehört haben. Da uns aber die Militärs
beschwichtigten, um offenbar Panik zu vermeiden (wo sollten denn auch die vielen Menschen hin?), blieben alle ruhig
auf den Bahnsteigen stehen.
In dem Buch "DER KREIS ORTELSSBURG" - Ein ostpreußisches Heimatbuch - berichtet Bürgermeister a.D. Bruno Armgard, ab
Seite 317 - Aus meiner Amtszeit in Ortelsburg von 1933 bis 1945 - S.341 "Das Ende":
"Als er (der Feind) am (Do) 18. Januar ... den Kreis Neidenburg erreichte, erging an diesem
Tage der Räumungsbefehl für den Kreis Ortelsburg .... Am 19. und 20. Januar erreichte der russische Vormarsch bereits die Kreise Ortelsburg,
Osterode und Deutsch-Eylau. An diesen beiden Tagen, Freitag, den 19. und Sonnabend, den 20. Januar, griff der Feind
ununterbrochen mit Tieffiiegern die Stadt Ortelsburg an. Hierbei gab es besonders am Bahnhof in der auf den Abtransport
wartenden Menge viele Tote. ... Am Abend, meines Wissens des 19.Januar, zog noch ein großer Menschenstrom mit
Handwagen, Schlitten und allem möglichen Gepäck, da der Bahnhof zerstört war, zur Verladerampe, wo noch ein
Flüchtlingszug abging, viele Ortelsburger zogen auch mit Handschlitten und Gepäck zum Bahnhof Neu Keykuth, um dort
einen Zug zu erreichen."
Anmerkung von Eckard Bieber:
Hier muss sich der Bürgermeister geirrt haben. Gemäß einem späteren Zitat fiel die
erste Bombe auf Ortelsburg erst Donnerstag, 18.01.1945. Am Freitag 19.01.1945 mögen einige Bomben auf Ortelsburg
gefallen sein und den Flüchtlingsstrom ausgelöst haben. Aber der Bahnhof (Bahnsteigraum) kann erst ab Sonnabend,
20.01.1945 unbrauchbar geworden sein.
"Heimatbote" der Kreisgemeischaft Ortelsburg 1995, S. 41 + 43 "Es ist fünfzig Jahre her" von Günter Scheumann:
,,(Donnerstag) 18. Januar 1945 Ortelsburg erlebt seinen ersten Luftangriff. Bomben fallen in Bahnhofsnähe,
in der Tönnestraße, in der Ulmenstraße ... (Freitag) 19. Januar 1945: Erneut Anflug russischer Flugzeuge. Es sind klapprige
Eindecker, es kommt einem vor, als würden die Bomben mit der Hand abgeworfen. Es gibt keine deutsche Luftwaffe mehr,
jedenfalls sehen wir keine mehr. In der Rönnestraße sehe ich die ersten Toten dieses Krieges. (Sonnabend), 20. Januar
1945: In der Ulmenstraße traf eine Splitterbombe einen Trupp zusammenstehender Soldaten, nun tragen wir auch die
ersten zerfetzten Körper zusammen, um sie einzusargen, wir haben über die
Ortelsburger Heimatbote 2007 - Seite 167
klapprigen sowjetischen Flugzeuge gelacht, als wir sie gestern sahen, das Lachen ist uns vergangen. (Sonntag), 21. Januar 1945,
der letzte Zug verlässt Ortelsburg in Richtung Bischofsburg. Alles in einem heillosen Durcheinander. Der Russe soll bereits in Friedrichshof sein. "
Anmerkung von Eckard Bieber:
Der Verfasser war damals 16 Jahre alt und muss bereits am 20.01.1945 nachts gegen 2.30 Uhr den Zug erreicht haben und
deshalb nichts vom großen Bombenangriff auf den Bahnhof Ortelsburg erfahren haben, die Splitterbombe kann vielleicht
schon am Freitag, 19.01.1945 gefallen sein.
"Heimatbote" der Kreisgemeinschaft Ortelsburg 1995, S. 59 und 71
"Willenberg während des Zweiten Weltkrieges von 1939 bis 1945 - Tagebuchaufzeichnungen von Annamarie Falk, Bochum / Willenberg -"
"19. Januar 1945: ... Die Bombenangriffe halten mit kurzen Unterbrechungen bis zum
Einbruch der Dämmerung an (in Willenberg). Bei Dunkelwerden halte ich ein Wehrmachtsfahrzeug an und fahre damit bis Ortelsburg. Gehe dort zu
meinen Verwandten in der Ernst-Mey-Straße, aber sie sind schon weg. Ich treffe Frau Schlüter vom Landratsamt und sie
sagt mir, dass Ortelsburg schon zum Teil geräumt ist. Ein langer Transportzug fährt aber noch um 21 Uhr, mit dem auch
die Bediensteten des Landratsamtes mitfahren, ich gehe also zur Bahn. Die Bahnhofstraße in Ortelsburg und der
Bahnsteig sind voll von Menschen. Mit Mühe und Not komme ich bis zum Bahnnsteig durch und treffe dort Familie Wach von
der Insel und Frau Lieschewski (Friseur), Hindenburgstraße. Der Zug fährt erst um 0.30 Uhr (Sonntag, 20.01.) ab, er
fasst 1400 Personen, wir hören auch von hier aus noch das Dröhnen des Frontfeldes."
Anmerkung von Eckard Bieber:
Siehe nachfolgenden Bericht (aus "Heimatbote" 1998) der Familie Schneider, die einen langen
Zug mit 45 Güterwagen schildert, die für 1400 Flüchtlinge mit Gepäck ausreichend erscheinen. Außerdem ist es wohl auch der Zug, der um 2 Uhr
abgefahren ist, denn es ist unwahrscheinlich, dass zwei Züge nachts kurz hintereinander (0.30 und 2.30 Uhr) abgefahren
sind.
"Heimatbote" der Kreisgemeinschaft Ortelsburg 1998, S.93,
aus einem Brief vom 23.01.1945 der Frau Elfriede Schneider an ihren Mann (im Felde, Norwegen) .... Aufzeichnungen der
Familie Schneider:
" ... Am Freitag (19.1.1945) vormittags wurde die totale Räumung Ortelsburgs bekanntgegeben, ich ging gleich einen
Evakuierungsschein besorgen .... Um 5 Uhr nachmittags gingen wir aus dem Hause .... Um 2 Uhr nachts (Sonnabend, 20.01)
ging der Transport los .... "
Anmerkung von Eckard Bieber:
Derselbe "Heimatbote" der Kreisgemeinschaft Ortelsburg 1998, S.94,
aus einem weiteren Brief vom 04.02.1945 der Frau Elfriede Schneider an ihren Mann Erich Schneider (im Felde, Norwegen):
Ortelsburger Heimatbote 2007 - Seite 168
" ... Der Leiter der Ortelsburger Krankenkasse, Heiden, ist jetzt hier (Leipzig) eingetroffen .... von ihm hörte ich,
dass am Sonnabend, dem 20. Januar, nachdem wir in der Nacht um 2 Uhr mit dem ersten Transport die Stadt verlassen
hatten, früh morgens (Sonnabend. 20.01) ein schwerer Fliegerangriff auf Ortelsburg niederging .... währenddessen
sollte der zweite Transport losgehen, der heftig mit Bordwaffen beschossen wurde. Dabei gab es 40 Tote und 25
Verletzte. Noch vier Transporte sind im Laufe des Tages abgegangen, aber nicht mehr von Ortelsburg, da der Bahnhof
und die Schienen vollständig zerstört waren, sondern teils von Neu Keykuth und von noch anderen Orten. Die Menschen sind
zum Teil durch Militärautos hingebracht worden .... Es muss furchtbar gewesen sein. Statt der 24 bewilligten
Bergungszüge, die innerhalb 5 Tagen abgehen sollten, konnten also nur 6 innerhalb 24 Stunden abgehen. "
Anmerkung von Eckard Bieber:
Hier kann einiges nicht zutreffen, was Herr Heiden geschildert hatte:
Der Bombenangriff soll nach anderen Angaben "im Laufe des Vormittags" bzw. in den "Mittagsstunden"
stattgefunden haben.
Eine nachträglich ausgestellte Sterbeurkunde spricht von "Mittagsstunden". Der "Transport" bestand nur aus wartenden
Flüchtlingen, die sich bereits ab morgens auf dem Bahnsteig sammelten. Kein Transport - gleich welcher Art - fuhr seit
dem Bombenangriff von den Bahnsteigen in Ortelsburg ab. Außerdem waren offensichtlich nur die Schienen im
Bahnsteigbereich zerstört, da ab Fechner noch die Gleise für Züge Richtung Allenstein lagen. Außerdem erscheint mir
die Zahl der Toten und Verletzten zu gering.
Derselbe "Heimatbote" der Kreisgemeinschaft Ortelsburg 1998, S.95, aus einem weiteren Brief vom 25.02 der Frau
Elfriede Schneider an ihren Mann (im Felde, Norwegen):
" ... Aber um der Kinder willen entschloss ich mich doch zur sofortigen Abreise"
(Anm. von E.B.: 1. Zug, Sonnabend, 20.01.1945 um 1,30 Uhr abfuhr). "Am nächsten Morgen 21.01.1945) setzte ein sehr schwerer Fliegerangriff
ein, bei dem auch der Bahnhof zerstört wurde und ein gerade abgehender Transport viele Tote und Verletzte hatte. Statt der 24
vorgesehenen Züge konnten nur noch 6 abgehen, und diese nach Zerstörung des Bahnhofs auch nur von anderen Stationen ....
von diesen Transporten ist bisher nur von einem bekannt geworden, dass er in den Landkreis Rostock gekommen ist, und
zwar wurde dieser geführt von Leutnant Helmut Lux, der gerade auf Urlaub war.
Anmerkung von Eckard Bieber:
In dem Brief erwähnt Frau Schneider eine Mitteilung des Leutnants Lux, dass nach ihm
(Mon.22.1.) noch ein Transport rausgegangen sei, der jedoch auf eine Mine gelaufen ist und viele Tote hatte.
Derselbe "Heimatbote" der Kreisgemeinschaft Ortelsburg 1998 ab S.96,
aus einem weiteren Brief, diesmal von dem Sohn Horst Schneider der (geb. 1927), aufgezeichnet im Frühjahr 1945:
"Der Bahnhof war schwarz von Menschen (am Freitag, 19.01.45). ... Der 5 (17 Uhr)- Transport war noch nicht da. Als um
7 (19 Uhr) ein leerer Güterzug einlief, wurde er sofort gestürmt, wir konnten keinen Platz mehr finden und
Ortelsburger Heimatbote 2007 - Seite 169
stiegen in einen abseits stehenden leeren Personenzug. " (Anm. von E.B.: Er war jedoch überwiegend mit verwundeten
Soldaten belegt. Hier fanden die Betroffenen jedoch noch Platz). "So wurde es 8 (20 Uhr). Da kam wieder Fliegeralarm!
Zu unserem Erstaunen setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr aus der Stadt. Dort blieb er aber wieder stehen. "
(Anm. von E.B.: Die Lok verschwand gemäß Bericht. Deshalb gingen die Betroffenen wieder zum Bahnhof zurück und stiegen
dort in einen langen Zug mit 45 Wagen ein.) "So saßen wir bis um 2 Uhr frühe (Sonnabend, 20.01.1945) auf dem Bahnhof
Endlich fuhren wir ab."
Anmerkung von Eckard Bieber: Die zitierten Zeitangaben der Familie Schneider stimmen mit meinen Erkenntnissen überein.
Ortelsburger Heimatbote 1999 - Seite 110
"Der letzte Zug" Rückblick von Helmut Lux zu:
Ortelsburg. Es war Sonntag, der 21. Januar 1945. ( .. ) Mein Weg führte mich weiter zum Bahnhof -
die Sperre offen, der Bahnsteig voller Blut, Bettfedern und zerrissener Gepäckstücke vom letzten Kurzangriff eines feindlichen Flugzeugs.
Die letzten beiden Züge am Freitag (19.1) und Samstag (20.1) waren über Bischofsburg gefahren und vermutlich schon in
Sicherheit. ( .. ) Ein allerletzter Zug würde noch ab Verladerampe Fechner in der Memeler Straße bereitgestellt. Mit
elf geschlossenen, zwei offenen Rungenwagen und einem Personenwagen. Die Abfahrtzeit war unbekannt, wieder kam Leben
in unsere Stadt. Frauen mit Kindern und zum großen Teil ältere Leute, mit Koffern und dem Rest ihrer Habe versuchten,
den Zug zu erreichen .. ( .. ) .. inzwischen war es 23 Uhr geworden, wir hatten bereits Ausfahrt, viermal wurde die
Abfahrt verschoben; immer wieder trafen weitere Ortelsburger ein.
Es ist schwer, Menschen zurückzulassen. Noch heute klingt es mir in den Ohren: , Warten sie, warten sie, Herr Luxchen,
meine Eltern kommen noch in 10 Minuten' .(..) .. inzwischen ist es in der Nacht des (Montag) 22. Januar 2.15 Uhr
geworden ... " (... )
Dieser Zug ist kurze Zeit später abgefahren.
Es folgt ein dramatischer Bericht, der schildert, wie es wegen einer
Toten im Zug dazu kam, dass Herr Lux die Abfahrt des Zuges, in dem sich seine Familie befand, verpasste und wie er
den Zug bei Bischofsburg auf der freien Strecke wiederfand, wie der Zug zurück über Sensburg und weiter über Korschen -
Heilsberg - Zinten nach Königsberg und weiter über Braunsberg - Marienburg - als zweitletzter Zug über die
Weichselbrücke - Neuenstein nach Stettin gelangte.
Bemerkung der Redaktion:
Wir bitten die Landsleute, die den Luftangriff am 20.1.1945 auf den Ortelsburger Bahnhof erlebt haben und den
Bericht von Herrn Bieber ergänzen können, sich mit der Redaktion in Verbindung zu setzen. Herr Bieber fragt sich auch,
ob die bei dem Luftangriff in Ortelsburg Umgekommenen noch bestattet werden konnten.
>> Quelle: Ortelsburger Heimatbote 2007 <<