Ein Beitrag von Andreas Kossert.

Erschienen in der "Welt am Sonntag" vom 01.11.2020

Kinder auf der Flucht

Die Flucht von Friedrich Biella aus Rohmanen, einem Dorf im Kreis Ortelsburg in Ostpeußen
                                                             Im Januar 1945

   Am frühen Morgen des 21. Januar 1945 bricht Friedrich Biella mit seiner Familie auf zwei Pferdefuhrwerken aus dem kleinen Dorf Rohmanen in Masuren auf. In seinem Notizbuch steht für diesenTag der knappe Eintrag „Befehl zum Verlassen meines Hofes“. Ungelenk formuliert, kündigt der siebzigjährige Altbauer in diesem Moment den ungeschriebenen Generationenvertrag mit seinen Vorfahren. Er muss alles zurücklassen, was gestern noch wichtig war, Land und Hof, Einrichtung und Erinnerungen – und auch die Tiere. „Unsere Hündin Senta hat uns ein Stück Weges begleitet. Je weiter wir uns vom Dorf entfernten, wurde sie immer unsicherer. Sie ist dann schließlich auf unser Anraten wieder nach Haus gelaufen,“ schreibt er.

   Friedrich Biella stammt aus einer alteingesessenen Bauernfamilie. In den 1890er-Jahren diente er als Rekrut beim 2. Garderegiment zu Fuß in Berlin-Lichterfelde. In dieser Zeit entdeckte er die Großstadt. Eigentlich – so weiß die Familienüberlieferung – will er nur ungern den Hof übernehmen, ist mehr Denker und Schreiber als Bauer. Aber als einziger Sohn fühlt er sich seinen seinen Eltern gegenüber verpflichtet, das Hoferbe anzutreten. Er geht zurück und heiratet 1903 Luise Paykowski, die aus einem Nachbardorf im Kreis Ortelsburg stammt. Gemeinsam werden sie sechs Kinder bekommen – drei Mädchen und drei Jungen.

   Seine Flucht beginnt an jenem 21. Januar 1945. Seine Kinder sind damals alle längst verheiratet, seine Frau Luise und er sind stolze Großeltern von 13 Enkelkindern. Die Flucht wird ihn und Teile seiner Familie über Ostpreußen und Hinterpommern durch Mecklenburg bis in das holsteinische Herzogtum Lauenburg führen, wo er am 7. April 1945 landet. Aber nicht richtig ankommt. So wie Millionen anderer, die wie er in diesen Monaten und Jahren flüchten müssen.

   IM RÜCKEN DER GESCHICHTE  Die ostpreußischen Winter sind Kinder auf der Flucht schneereich und frostig. So ist es auch im Januar 1945. Irgendwann beginnt immer die Schneeschmelze, und dann denkt Friedrich Biella normalerweise wie alle Bauern in Masuren, einer landwirtschaftlichgeprägten Gegend, bereits an die Früjahrssaat und den Zustand des Wintergetreides. Das bäuerliche Leben wird seit Jahrhunderten vom Rhythmus der Jahreszeiten geprägt. Ausgedehnte Wälder wie zahllose Seen prägen die hügelige Landschaft an der Grenze zwischen deutscher und polnischer Kultur. Hier sind die Menschen gottesfürchtig, evangelisch und preußisch.

   Der ebenfalls aus Masuren stammende Schriftsteller Siegfried Lenz beschreibt in „So zärtlich war Suleyken“ jenes karge Leben, wie es für diesen Landstrich charakteristisch war. „Meine Heimat lag sozusagen im Rücken der Geschichte; sie hat keine berühmten Physiker hervorgebracht, keine Rollschuhmeister oder Präsidenten; was hier vielmehr gefunden wurde, war das unscheinbare Gold der menschlichen Gesellschaft: Holzarbeiter und Bauern, Fischer, Deputatarbeiter, kleine Handwerker und Besenbinder. Gleichgültig und geduldig lebten sie ihre Tage, und wenn sie bei uns miteinander sprachen, so erzählten sie von uralten Neuigkeiten, von der Schafschur und vom Torfstechen, vom Vollmond und seinem Einfluss auf die neuen Kartoffeln, vom Borkenkäfer oder von der Liebe.“ Auch in dem Dorf Rohmanen leben, wie in Lenz’ Suleyken, vor allem Bauern, Handwerker, Landarbeiter.

   Es ist 1945 nicht das erste Mal, dass die Familie Biella ihre Heimat verlassen muss. Im August 1914 wurden große Teile Ostpreußens als einzige deutsche Provinz von russischen Truppen erobert und besetzt. Hunderttausende Ostpreußen flohen schon damals gen Westen. Auch Friedrich Biella. Sein Hof ging in Flammen auf. Als die Familie 1915 von ihrer Flucht zurückkehrte, musste sie von vorn anfangen und alles wieder aufbauen. Der damalige militärische Oberbefehlshaber und spätere Reichspräsident der Weimarer Republik Paul von Hindenburg wurde von den monarchistisch-konservativen Masuren, auch von Landwirt Friedrich Biella, als „Retter Ostpreußens“ verehrt, weil er die Provinz zurück erobern konnte und damit den Flüchtlingen eine Rückkehr in ihre Heimat ermöglichte.

   Neue Anfechtungen erwarteten die gebeutelte Bevölkerung unmittelbar nach Kriegsende, als infolge des Versailler Vertrages am 11. Juli 1920 eine Volkabstimmung über die territoriale Zugehörigkeit des südlichen Ostpreußens durchgeführt wurde. Mit einem überwältigenden Votum für einen Verbleib bei Deutschland wiesen die heimatverbundenen Masuren polnische Ansprüche aber zurück. Die Weimarer Jahre blieben Krisenjahre, viele Ostpreußen, die hier in besonderer Weise von politischen Konflikten und vor allem einer dramatischen Agrarkrise in der landwirtschaftlich dominierten Provinz betroffen waren, suchten wie andere Deutsche die Rettung bei Adolf Hitler.

   OFFENSIVE IN OSTPREUSSEN  1933 hielt der Staatsterror auch Bilder der Flucht im ländlichen Masuren Einzug, auch von ostpreußischem Boden aus überfiel Deutschland am 1. September 1939 seinen alten Nachbarn Polen. Ab 1941 verschanzte sich Hitler mitten in den ostpreußischen Wäldern hinter dicken Betonmauern in der Wolfsschanze, von woaus er den Überfall auf die Sowjetunion plante und befehligte. Hier scheiterte am 20. Juli 1944 auch das Attentat auf Hitler, als die Alliierten bereits in der Normandie gelandet waren. Im Osten rückte die sowjetische Armee in diesem Sommer bis an die Reichsgrenze vor. Und im Januar 1945 startete sie ihre Offensive in Ostpreußen, in deren Folge Friedrich zum Flüchtling wurde.

   Am Ende des Zweiten Weltkrieges sind schließlich Millionen Deutsche aus den Ostprovinzen Ostpreußen, Schlesien, Pommern und Ostbrandenburg auf der Flucht vor der vorrückenden sowjetischen Armee. Weitere Millionen, die in ihrer Heimat verbleiben oder auf dem Fluchtweg nicht weiterkommen, werden später auf der Grundlage der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz der Siegermächte über die Nachkriegsordnung Europas im Sommer 1945 vertrieben oder zwangsweise ausgesiedelt.

   Hinter diesen Zahlen und Statistiken verbergen sich Millionen Einzelschicksale. Friedrich Biellas Flucht steht stellvertretend für ein Gesamtgeschehen, mit einem Namen und einer Geschichte. Daran zu erinnern ist wichtig, denn sie macht aus der anonymen Masse Kollektiv der Flüchtlinge eine persönliche und nachvollziehbarere Erzählung.

   Metaphern wie „Flüchtlingsstrom“(Zitat aus Schleswig-Holstein von 1945 gegenüber deutschen Flüchtlingen) und „schäbigen menschlichen Horden“ (Zitat von 1923 gegenüber Armeniern in Frankreich) hat es zu allen Zeiten gegeben und sie suggerieren, dass die Ankunft von Flüchtlingen und Vertriebenen eine Art Naturkatastrophe ist, die Sesshafte bedroht. Dabei sind es die Heimatlosen, die die Bodenhaftung verlieren, als Entwurzelte fortgespült werden in einem Strom der Gewalt. Es ist immer ein radikaler Vorgang, der einen Menschen zum Flüchtling macht.

   Seit Jahrhunderten löst eine „Flüchtlingskrise“ die nächste ab: Hugenottenfliehen in protestantische Länder, Kaukasus-Muslime in das Osmanische Reich, kleinasiatische Griechen nach Griechenland, Polen aus Wilna in das nach Westen verschobene Polen, kurdische Juden nach Israel, Koreaner aus dem Norden in den Süden, vietnamesische Boatpeople in die USA und bosnische Muslime nach Deutschland. Was jeder Einzelne erlebt, ist eine menschliche Tragödie, so wie im Fall von Friedrich Biella. Zählt man die Tragödien zusammen, erscheint das Thema Flucht als das, was es seit Menschengedenken ist: eine katastrophale Krise.

   Und trotz unterschiedlicher Ursachen, Kontexte und Epochen kennen alle Flüchtlinge und Vertriebenen diesen erzwungenen Abschied, die Ungewissheit über Wege und Ziele ihrer Flucht, über alles, was dann folgt. Nach dem Ankommen erwarten sie Lager- und Transitzentren, Ausgrenzung und Feindschaft ebenso wie ein Weiterleben, das Integration, Assimilation oder permanentes Exil bedeuten kann. Oftmals bleiben Trauer und Heimweh zurück, die das weitere Leben bestimmen, selbst wenn Flüchtlinge materiell wieder angekommen sind. Am Ende verbindet alle die Erinnerung an das Verlorene, manchmal sogar über Generationen hinweg. Deshalb hat auch Heimat eine besondere Bedeutung für Flüchtlinge, denn sie definiert sich aus ihrem Verlust.

    ABSCHIEDNEHMEN VON MASUREN  Im Sommer 1944 Aufbruch gelangen sowjetische Truppen in Ostpreußen erstmals auf deutsches Reichsgebiet. Damit kommt der Krieg, der vom nationalsozialistischen Deutschland ausging und Besatzungsherrschaft, Terror und Massenmord über den ganzen Kontinent gebracht hat, nach Deutschland zurück. Mit Beginn der sowjetischen Großoffensive Mitte Januar 1945 wird die Provinz von mehreren Seiten angegriffen und damit direktes Kriegsgebiet. Auch im Kreis Ortelsburg, der direkt an der polnischen Grenze liegt und in dem Friedrich Biella lebt, stoßen sowjetische Verbände von Süden vor. Die Front verläuft in unmittelbarer Nähe.

   Am 21. Januar 1945 zeigt das Thermometer mehr als 20 Grad Frost. Der Geschützdonner der nahen Front ist schon seit Tagen zu hören. Friedrich Biella geht an diesem Sonntag wie immer noch vor Tagesanbruch in die Ställe und füttert seine Schweine, Schafe und Rinder. Doch an diesem Tag passiert etwas Außergewöhnliches: Er bindet sie los und sperrt die Stalltüren weit auf. Ab jetzt sind seine von ihm jahrein, jahraus gehegten Tiere sich selber überlassen und irren durch die masurische Winterlandschaft. Nur die Pferde werden auf dem Fluchtweg gebraucht. Die Tiere – so ist es in vielen Fluchtberichten überliefert – sind nervös, sie spüren die Ausnahmesituation. Alle anderen Tiere lässt er frei.

   Mit Friedrich Biella flüchten seine Frau, seine Tochter, seine Schwiegertochter und zwei kleine Enkelinnen auf einem Pferdefuhrwerk, das sie provisorisch mit ein paar Habseligkeiten beladen. Das zweite Gespann führt der französische Kriegsgefangene Pierre, der seit 1940 fast wie ein Teil der Familie geworden ist, so wird es überliefert. Er stammt aus Südfrankreich und begleitet die Familie auf der gesamten Flucht. Über einen Wagen wird ein Teppich gespannt worunter die Familie sich vorWitterung und Kälte zu schützen versucht. Zusätzlich packen sie zwei Holzkisten mit Einmachgläsern ein. Doch diese erweisen sich als viel zu schwer und müssen zurück bleiben. Zudem müssen sie ausreichend Futter für die fünf Pferde mitführen.

   Was dieser Moment des Abschieds für ihn bedeutet, hat Friedrich Biella seinem Notizbuch nicht anvertraut. Nachdem ihr Hund Senta sie verlassen hat, setzen sie ihre Flucht auf der Chaussee nach Norden fort. „Die Menschen überall auf der Flucht“, notiert er wenige Tage später. Er ringt um Worte, um das Unvorstellbare zu beschreiben. „Auf die Flucht gehen“, hinter dieser Wendung verbirgt sich ein Vorgang, der das gewöhnliche Vorstellungsvermögen sprengt. Die Fantasie reicht nicht aus, sich vorzustellen, wie es ist, alles zu verlieren. Was zurückgelassen wird, ist für immer verloren. Dennoch macht sich in dem Moment des Aufbruchs kaum jemand klar, dass die Flucht ein Abschied für immer sein könnte.

    Was fühlt Friedrich Biella, als er sein Vieh zurücklassen muss, das seine Lebensgrundlage war, was bedeutet es für ihn, ein letztes Mal sein Haus zu sehen oder Nachbarn und Angehörigen Lebewohl sagen zu müssen? Jeder muss entscheiden: Was nimmt man mit? Wie viel kann man tragen, unterwegs zu Fuß? Wertsachen, Fotos, Schmuck und Dokumente einpacken oder besser Verpflegung für die kommenden Tage?

   Auch alles, was auf Erbrecht fußt, gilt plötzlich nicht mehr. Testamente und Investitionen in die Zukunft, Grund und Boden, Sparbücher – im Moment der Flucht versinkt alles in Bedeutungslosigkeit. Immobilien und große Teile des übrigen materiellen Besitzes bleiben zurück – und nicht zuletzt die Toten. Friedhöfe liegen verwaist, die Gräber wachsen zu. Niemand kommt mehr, um sie zu pflegen. Und was bedeutet es für Alte, ihre Kinder auf die Flucht zu schicken und allein zurückzubleiben?

   Auf der Chaussee von Ortelsburg nach Bischofsburg begegnen den Biellas andere Flüchtlinge, Militärkolonnen, Aufbruch Zivilisten, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene. „Schon die erste Etappe unseres Weges war sehr gefährlich. Die Straße war zum Teil spiegelglatt. Die Pferde rutschten und der Wagen auch“, erinnert sich Schwiegertochter Erna später. „Ich ging fast immer zu Fuß und konnte mich nicht auf den Beinen halten.“ Sie kommen in ein Dorf im Kreis Bischofsburg. Dort treffen sie eine folgenreiche Entscheidung. Friedrich und Luise entschließen sich zur Rückkehr. Sie scheuen in ihrem Alter die Strapazen einer weiteren Flucht, während ihre Schwiegertochter mit den beiden Kindern gemeinsam mit ihrer Tochter Marta weiter Richtung Frisches Haff flüchtet.

   Doch entgegen ihrer Absicht können Friedrich und Luise Biella nicht nach Hause zurückkehren. Entweder ließ sie das Militär nicht mehr passieren oder die wenigen Straßen waren verstopft. Das ist nicht überliefert. Deshalb setzen sie ihre Flucht fort. Gemeinsam mit dem Franzosen Pierre gelangen sie nahe Braunsberg an das zugefrorene Frische Haff, das nach der Einkesselung Ostpreußens einzige Nadelöhr, das noch eine Rettung in Richtung Westen verspricht. Das Eis ist häufig brüchig, um sie herum versinken Menschen und Pferde, ganze Gespanne. Zudem beschießen Tiefflieger das Eis. Da es nur mühsam vorangeht, müssen sie auf dem Eis übernachten. Weiter fahren sie Richtung Frische Nehrung, der Landzunge, die eine Verbindung nach Westen ermöglicht.

    Auf der Nehrung fliehen sie über das Danziger Werder, die Weichsel und schließlich über Hinterpommern und die Oder nach Mecklenburg. Weil die Anstrengungen der Flucht alle Kräfte binden, setzen Friedrich Biellas Aufzeichnungen erst Ende März 1945 wieder ein, als er schließlich im Herzogtum Lauenburg strandet. Es ist der 7. April 1945.Wie durch ein Wunder haben sie den weiten Weg monatelang irgendwie gemeistert, mitsamt der fünf Pferde haben sie fast tausend Kilometer zurückgelegt.

   STRANDEN UND ABWARTEN Nach Kriegsende fragt Biella Woche für Woche bei der britischen Militärkommandantur nach, wann er zurückkehren könne. Dort vertröstet man den alten Mann. Am 16. Juni 1945 schreibt er, man habe ihm in Dargow beim Kommandanten bedeutet, „mit der Rückkehr noch abwarten“.

   Sein Leben in der britischen Zone, zwangseinquartiert bei fremden Menschen, erträgt der Bauer nur schwer. Zudem wissen die beiden Alten nichts über den Verbleib ihrer Kinder und Enkelkinder. Friedrich entwirft in seinem Notizbuch eine Suchanzeige: „Der Bauer Friedrich Biella, 71 Jahre alt u. seine Ehefrau Luise Biella, 63 Jahre alt“, formuliert er, „befinden sich in Bresahn b.Ratzeburg Lauenburg und suchen ihre abhanden gekommenen Kinder“. Hinter diesen Zeilen verbergen sich Dramen. Wo sind die Angehörigen hin, die man aus den Augen verloren hat? Sind sie anderswo gestrandet, oder sind sie umgekommen? Hunderttausende Zivilisten kommen auf der Flucht oder bei folgenden Gewaltakten um, andere werden zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Millionen Familienangehörige wissen nichts voneinander.

    Als Erstes werden die Biellas ihren Sohn Otto wiederfinden, der am 6.März 1946 bei seinen Eltern eintrifft, nachdem er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien entlassen worden ist. Schließlich findet dieser über das Rote Kreuz heraus, dass auch seine Frau und beide Töchter die Flucht überlebt haben und besucht sie in Nordfriesland, wo diese gestrandet sind. „Die Freude war nicht in Worte zu fassen“, erinnert sich seine Frau rückblickend über das Wiedersehen. „Wir hatten uns gefunden, wir lebten, und das war die Hauptsache!“

   1945 sehen sich die Besatzungszonen einer gigantischen „Flüchtlingswelle“ ausgesetzt. Insbesondere in Aufbruch Mecklenburg und Vorpommern, in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern ist für viele Einheimische das Boot bereits übervoll. Mancherorts stellen entwurzelte Deutsche die Hälfte der Bevölkerung. Allein die Anordnungen der Siegermächte gegenüber dem besiegten Land verhindern vielerorts offenen Widerstand gegen Zwangseinweisungen von „Pollacken“, „Zigeunern“ und „Rucksackdeutschen“, wie die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen verächtlich genannt werden. Niemand hat im Westen auf die 14 Millionen Landsleute gewartet geschweige denn sie willkommen geheißen, die für die Menschheitsverbrechen in deutschem Namen mit dem Verlust ihrer Heimatbezahlen müssen.

   DIE HOFFNUNG AUF RÜCKKEHR  Friedrich Biella hält an seinen Pferden fest. Was ist ein Bauer ohne seine Pferde, sie allein – so sein Denken – ermöglichen ihm die Rückkehr in die Heimat. Täglich muss er sich deshalb fragen, neben seiner Sorge um die Familie, wie er fünf Pferde versorgen und unterbringen kann. Dafür verdingt er sich bei einheimischen Bauern, um mit Spanndiensten Feldarbeiten zu erledigen. Im Gegenzug gewähren die Bauern ihm – dem einstigen stolzen Besitzer von 40 Hektar Ackerland – kostenlos Unterkunft und Futter für die Tiere. Abends kehrt der alte Mann in seine Kammer zurück, ein alter Stall, in dem seine Frau und er vegetieren.

   Der Verlust der Heimat ist für jeden Betroffenen eine fundamentale Zäsur. So ist es auch bei Friedrich Biella. Manche Gesellschaften aber haben davon, was es bedeutet, unter Zwang und Gewalt fliehen zu müssen und am Ende im Exil zu leben, nicht einmal die geringste Vorstellung. In Island etwa fehlt der entsprechende Erfahrungshintergrund vollkommen, da seine Bewohner – zu ihrem Glück – nie fliehen mussten. Eine Ostpreußin, die es dorthin verschlug, hat das erfahren, als sie „von der Flucht“ erzählte. „Wohl hörte man ihr interessiert zu, aber dann kam die Frage: "Ja, wurden eure Möbel denn nachgeschickt?“

   In den meisten Sprachen, Kulturen, Religionen und Weltanschauungen aber gibt es Geschichten vom erzwungenen Fortgehen, gefährlichen Fluchtrouten, vom Ankommen, von Heimweh, Anpassung, Schweigen, von Tabus und Traumata. Fremd zu sein ist eine Erfahrung, die Menschen auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten gemacht haben und machen. Der Flüchtling ist ein Entwurzelter, den der Schatten der Erinnerung niemals verlässt, der ihn manchmal sogar über den Tod hinaus begleitet.

   Kaum hatte die Gesellschaft für deutsche Sprache und Dichtung „Flüchtling“ zum Wort des Jahres 2015 gekürt, hagelte es Kritik. Manche plädieren dafür, „Flüchtling“ durch „Geflüchtete“ zu ersetzen, da „Flüchtling“ zu niedlich, zu negativ, zu abwertend oder auch zu männlich wirke. Aus historischer Perspektive ist gegen „Geflüchtete“ wiederum einzuwenden, dass der Begriff verharmlost und die Erfahrungen von Gewalt, Willkür und Schutzlosigkeit kaum zu erfassen vermag. Zudem suggeriert das Wort „Geflüchtete“, dass der Prozess des Fliehens und der Flucht mit der Ankunft abgeschlossen ist und somit vollendete Tatsachen geschaffen sind. Genau das ist der Trugschluss, dem vor allem Nichtbetroffene häufig erliegen. Flüchtlinge wie Friedrich Biella dagegen müssen erfahren, dass sich das Thema für sie nie erledigt.

   Im Dezember 1946 steht das zweite Weihnachtsfest in der Fremde vor der Tür. Friedrich Biella und seine Frau Aufbruch Luise sorgen sich um Kinder und Enkelkinder, die sie zwischenzeitlich ausfindig machen konnten und die verstreut über die Besatzungszonen leben. Am 21. Dezember 1946 schreibt er an seine jüngsteTochter Lotte, die mit ihren vier kleinen Kindern Obdach im Raum Hannover gefunden hat. „Meine lieben Kinder alle! Ich will Euch auch einmal einen kleinen Brief aus unserem Asyl schreiben“, beginnt er. „Wie lange dieser Zustand noch dauern wird, wissen wir alle nicht.“

   Die große Familie kann nicht zusammen kommen, und das bedrückt den alten Mann. Er selbst und seine Frau sind wenigstens auf dem Land untergekommen, wo sie in der kalten Jahreszeit heizen können. „Wir machen uns viele Sorgen um Euch alle, jetzt vor allen Dingen wegen des Brennmaterials, wir auf dem Lande können noch etwas besorgen, aber die in den Städten sind sehr schlimm dran.“ Da er aus der Ferne nicht helfen kann, muss er sich auf Weihnachtsgrüße an die Tochter und die Enkelkinder beschränken. „Weihnachten verlebt dieses Jahr, wie es uns die Verhältnisse gestatten, und Dir mein Lottchen, schicke ich als Weihnachtsmann diese Kleinigkeit, möge es Dir gut zu statten kommen. Wenn Eure Zeit es gestattet, so laßt von Euch hören, denn jedes Briefchen von Euch erfreut uns beide sehr. Und nun lebt rechtherzlich wohl, alle meine lieben Kinder und seid alle geherzt und geküßt von Euren alten Eltern.“

   Im folgenden Jahr schwinden Friedrich Biellas Kräfte. Es weiß nun, dass es sinnlos ist, bei der Kommandantur nachzufragen. „21.1.45 Befehl zum Verlassen meines Hofes“, lautete jener Eintrag in sein Notizbuch, der ein Abschied für immer sein sollte. Er stirbt am 2. Januar 1948 in seinem Asyl, wie er es selbst nennt. Anders als 1914 gibt es für ihn und Millionen geflüchtete Ostpreußen, Pommern und Schlesier kein Zurück mehr. Der Flüchtling Friedrich Biella, der so sehr auf eine Rückkehr in die Heimat gehofft hatte, wurde zu einem heimatlosen Vertriebenen. In der Weltchronik über das Fliehen steht seine Geschichte für Abermillionen ähnlicher Schicksale. Aufbruch
   
   

Der Text entstammt in Teilen dem gerade erschienenen Buch
„Flucht. Eine Menschheitsgeschichte“ von Andreas Kossert (Siedler Verlag) und wurde
vom Autor ergänzt und erweitert. Der Flüchtling Friedrich Biella, der in diesem Text die
Hauptrolle spielt, ist der Urgroßvater des Autors.